Kurz gesagt: Österreich hat seine Wettbewerbsfähigkeit nicht in einem einzigen Jahr „verloren“, sondern seit gut 10–15 Jahren schleichend eingebüßt – sichtbar vor allem seit etwa 2010, deutlich messbar seit 2020. Die Ursachen sind strukturell: hohe Abgaben auf Arbeit, Reformstau bei Regulierung und Verwaltung, schwache Produktivitätsdynamik trotz hoher F&E-Ausgaben, demografischer Druck und eine riskante Energiepolitik.

Unten eine strukturierte, kritische Einordnung mit Daten, Parteien, Personen und Maßnahmen.


1. Faktenbasis: Wo steht Österreich heute?

Internationale Rankings

  • Im IMD World Competitiveness Ranking fiel Österreich
    – von Platz 16 (2020)
    – auf Platz 24 (2023)
    – und liegt 2024/25 nur noch auf Platz 26 von 69 Ländern. finanzen.at+3FORWIT+3wko.at+3
  • Die WIFO-Radar-Studie zur Wettbewerbsfähigkeit 2024 zeigt:
    Über 24 Indikatoren ist Österreich in den letzten 10 Jahren um 7,4 Perzentilpunkte gefallen – „Austria is steadily losing ground“. WIFO

Produktivität und Einkommen

  • Der Produktivitätsrat und die OECD zeigen: Die Arbeitsproduktivität trägt seit der Finanzkrise deutlich weniger zum BIP-Wachstum bei als davor; Österreich liegt bei Produktivitätswachstum inzwischen unter dem EU-Durchschnitt, und das reale verfügbare Haushaltseinkommen pro Kopf ist in den letzten Jahren teilweise rückläufig. produktivitaetsrat.at+1

Steuern und Abgaben

  • Laut OECD „Taxing Wages“ hat Österreich eine der höchsten Steuer- und Abgabenbelastungen auf Arbeit weltweit: 2023 lag der „tax wedge“ für einen durchschnittlichen Single-Arbeitnehmer bei 47,2 % – Platz 3 unter allen OECD-Ländern (nur Belgien und Deutschland liegen höher). OECD+1
  • Eine frühere Analyse des Finanzministeriums stellt fest: Die Abgabenquote liegt rund 8 Prozentpunkte über dem OECD-Durchschnitt. Bundesministerium für Finanzen

EU & OECD Diagnose

  • Die EU-Länderanalyse Österreich 2024 und der OECD-Survey 2024 betonen als Kernprobleme:
    • hohe Lohnstückkosten (starker Anstieg der Unit Labour Costs 2023),
    • Fachkräfte- und Skills-Mangel (eine der höchsten Vakanzraten in der EU),
    • strenge Produktmarktregulierung, v. a. in freien Berufen und Dienstleistungen,
    • viel F&E-Input, aber zu wenig Innovationsertrag und Unternehmensgründungen. EUR-Lex+1

Damit ist klar: Österreich ist nicht arm oder deindustrialisiert, aber rutscht relativ zu Spitzenländern und dynamischen Nachbarn sukzessive nach hinten.


2. „Wann?“ – Die Erosion in vier Phasen

Phase 1: Aufstieg und „Komfortzone“ (1995–2007)

  • EU-Beitritt, Ostöffnung, starker Exportboom und Investitionen – Österreich klettert in vielen Ranglisten nach oben.
  • Regierungen: vor allem ÖVP–FPÖ/BZÖ (Schüssel) und davor/begleitend Großkoalitionen SPÖ–ÖVP.
  • Positiv: Unternehmenssteuersenkung, Ostexpansion.
  • Negativ: Erste Strukturwarnungen zu Abgabenquote, Pensionskosten und starrer Regulierung werden ignoriert – der Sozialpartner-Konsens („Sozialpartnerschaft“) schützt bestehende Strukturen.

Phase 2: Nach der Finanzkrise – eingeübter Reformstau (2008–2013)

  • Krise 2008/09, danach sind viele Länder zu Strukturreformen gezwungen – Österreich weniger.
  • Regierungen: SPÖ–ÖVP (Gusenbauer, Faymann).
  • Fokus: Stabilisierung des Bankensektors, Konjunkturpakete, soziale Abfederung.
  • Versäumt:
    • strukturelle Entlastung der Arbeit,
    • tiefgreifende Verwaltungs- und Regulierungsreform,
    • aggressivere Öffnung geschützter Sektoren (Freiberufe, Gewerbeordnung).

Phase 3: 2013–2019 – sich einrichtender Mittelmaß-Standort

  • Regierungen: weiter SPÖ–ÖVP (Faymann, Kern), dann ÖVP–FPÖ (Kurz I).
  • In diesen Jahren beginnt laut WIFO Radar und IMD das sichtbare Abrutschen: Konkurrenzländer in Nord- und Osteuropa ziehen vorbei. WIFO+1
  • Maßnahmen:
    • punktuelle Steuerreformen, aber Tax Wedge weiterhin extrem hoch,
    • einige Deregulierungsansätze unter Kurz (z. B. Arbeitszeitrecht), aber keine grundlegende Liberalisierung der Dienstleistungsmärkte,
    • viel Politik via Subventionen und Förderprogramme, wenig via Vereinfachung und Wettbewerb.

Phase 4: 2020–2025 – Krisenstress legt Schwächen offen

  • Regierungen: ÖVP–Grüne (Kurz II, Schallenberg, Nehammer).
  • Corona-Politik, Lockdowns, massive Hilfsprogramme, danach Energiekrise durch Abhängigkeit von russischem Gas.
  • Folgen:
    • sprunghafter Anstieg von Staatsschulden und Defiziten (bis über 3 % des BIP). EUR-Lex+1
    • starke Inflation → Lohnrunden → überdurchschnittlicher Anstieg der Lohnstückkosten; EU bescheinigt kurzfristigen Verlust der Kostenwettbewerbsfähigkeit. EUR-Lex
    • gleichzeitig: kaum tiefgreifende Strukturreformen, obwohl alle Indikatoren (IMD, WIFO Radar) nun klar nach unten zeigen. WIFO+1

Wenn man einen Wendepunkt nennen will, dann ist es nicht ein Jahr, sondern der Zeitraum 2010–2025, mit einem beschleunigten Abrutschen ab ca. 2018 und besonders 2020–2025.


3. „Wie?“ – Die zentralen strukturellen Ursachen

3.1 Hohe Steuer- und Abgabenquote auf Arbeit

Faktische Lage

  • Tax Wedge für Durchschnittsverdiener: über 47 % vs. OECD-Durchschnitt 34,9 % – Platz 3 im OECD-Vergleich. OECD+1
  • Finanzministerium & Steuerreformkommission: Abgabenquote ~8 Prozentpunkte über OECD-Schnitt. Bundesministerium für Finanzen
  • EcoAustria/IMD: Österreich landet beim Kriterium „Fiskalpolitik“ wegen hoher Abgabenquote auf Rang 61 von 63 Ländern; hohe Steuerbelastung und ineffiziente Verwaltung werden im WEF-Executive-Survey als zentrale Standortprobleme genannt. EcoAustria

Politische Verantwortung

  • Alle großen Regierungsparteien – SPÖ, ÖVP, FPÖ, Grüne – haben über Jahrzehnte ein sehr großzügiges Transfersystem (Pensionen, Gesundheitswesen, Förderlandschaft) ausgebaut, aber kaum bereitwillig bei Strukturen gespart.
  • Steuerreformen (z. B. 2016 unter SPÖ–ÖVP, später Öko-Sozialreform unter ÖVP–Grüne) verschieben zwar etwas, senken aber den strukturellen Tax Wedge kaum.
  • 2024 hat Kanzler Karl Nehammer (ÖVP) explizit Entlastungen bei der Einkommensteuer als Wahlversprechen gesetzt – ein indirektes Eingeständnis des Problems. Reuters

Wirtschaftliche Folge: Hohe Arbeitskosten bei nur durchschnittlicher Produktivität → Druck auf Arbeitsplätze im internationalen Wettbewerb, Standortnachteile gegenüber Ländern wie Schweiz, Dänemark, Niederlande.


3.2 Schwache Produktivitäts- und Innovationsdynamik trotz hoher F&E-Quote

Faktische Lage

  • Österreich gehört mit F&E-Ausgaben von 3,2 % des BIP zu den Spitzenreitern in der EU. EUR-Lex
  • Trotzdem:
    • IMD-Wettbewerbsrang von 16 (2020) auf 26 (2025) gefallen. FORWIT+1
    • European Innovation Scoreboard: Österreich bleibt seit Jahren in der Gruppe „Strong Innovators“, aber kommt platzmäßig kaum voran. FORWIT
    • Global Innovation Index: leichte Verschlechterung (z. B. von Platz 17 auf 19). FORWIT
  • Der österreichische Produktivitätsrat und WIFO sehen deutliche Rückgänge v. a. bei Multifaktorproduktivität. produktivitaetsrat.at+1

Diagnose von EU/OECD

  • EU-Bericht: F&E-Investitionen übersetzen sich nicht ausreichend in Innovationsergebnisse, u. a. wegen:
    • geringer Unternehmensdynamik,
    • mangelndem Risikokapital,
    • Skalierungsproblemen junger Firmen. EUR-Lex

Politische Verantwortung

  • Wissenschafts- und Innovationspolitik unter wechselnden Ministern (SPÖ/ÖVP, später ÖVP-geführt) fokussierte stark auf Förderquoten und Exzellenz-Cluster, weniger auf:
    • konsequenten Abbau von Markteintrittsbarrieren,
    • eine wirklich gründungsfreundliche Regulierung,
    • Entwicklung eines tiefen Venture-Capital-Marktes.

3.3 Überregulierung, Bürokratie und schwacher Wettbewerb

Faktische Lage

  • Der OECD-Survey 2024 hält fest, dass die österreichischen Produktmarktregulierungen „etwas strenger“ sind als in vielen anderen OECD-Ländern, besonders in freien Berufen und Dienstleistungen. OECD
  • EcoAustria/IMD und WEF-Umfragen sehen ineffiziente Verwaltung und komplexe Regulierung als zentrale Standorthemmnisse. EcoAustria

Strukturen und Akteure

  • Sozialpartnerschaft & Kammern (Wirtschaftskammer, Arbeiterkammer, Fach- und Standesvertretungen) verteidigen traditionell:
    • Gewerbeordnung mit strengen Zugangsvoraussetzungen,
    • Einschränkungen bei Ladenöffnungszeiten,
    • zahlreiche Berufszugangsregeln.
  • Politisch:
    • SPÖ & ÖVP haben diese Arrangements jahrzehntelang getragen,
    • FPÖ kritisiert Bürokratie rhetorisch, reformiert sie aber in Regierungsverantwortung kaum,
    • Grüne setzen andere Schwerpunkte (Umwelt, Klima) und treiben Deregulierung ebenfalls nicht massiv voran.

Folge: Geringerer Wettbewerbsdruck, weniger Markteintritte, geringere Innovations- und Produktivitätsimpulse.


3.4 Demografie, Fachkräftemangel und ungenutztes Arbeitskräftepotenzial

Faktische Lage

  • EU-Bericht 2024: Österreich hat eine der höchsten Vakanzraten in der EU, Fachkräfte- und Skills-Mangel bremsen Wachstum, Investitionen und Innovation. EUR-Lex+1
  • Kinderbetreuung: Weniger als ein Viertel der Kinder unter 3 Jahren in frühkindlicher Betreuung – das ist explizit als Hindernis für Vollzeit-Beschäftigung von Müttern genannt. EUR-Lex

Politische Verantwortung

  • Bund und Länder (Parteien: v. a. ÖVP, SPÖ, Grüne, teils FPÖ in Landesregierungen) haben:
    • den Ausbau der qualitativ hohen, ganztägigen Kinderbetreuung zu langsam vorangetrieben,
    • die Zuwanderungs- und Anerkennungsregeln für qualifizierte Fachkräfte lange restriktiv bzw. bürokratisch gehalten.

Folge:

  • Schlechter Arbeitskräftepool trotz hoher Zuwanderung,
  • Produktivitätsverluste, weil Unternehmen Stellen nicht besetzen können,
  • wachsender Druck, Produktion zu verlagern oder zu automatisieren.

3.5 Energiepolitik und Russland-Abhängigkeit

Faktische Lage

  • Die EU-Länderanalyse 2024 warnt: Österreich bleibt verwundbar, weil der Anteil von Erdgas (u. a. aus Russland) in der Energiebilanz hoch ist und eine klare Diversifikationsstrategie lange fehlte. EUR-Lex
  • Die Energiepreisschocks 2022/23 trafen die europäische Industrie insgesamt, aber energieintensive Standorte – dazu gehört Österreich – besonders. Le Monde.fr

Akteure

  • Langjährige Energiepolitik unter Regierungen von SPÖ–ÖVP, ÖVP–FPÖ, ÖVP–Grüne sowie die Rolle von OMV (mit staatlicher Beteiligung) bei langfristigen Gasverträgen mit Russland.
  • Politisch war über Jahre Konsens, dass russisches Gas „sicher und günstig“ sei – die geopolitische Risikoabsicherung blieb unterentwickelt.

Folge:

  • Höhere Energiekosten als viele außereuropäische Konkurrenten,
  • Unsicherheit für energieintensive Industrie (Chemie, Metall, Papier etc.),
  • zusätzlicher Wettbewerbsnachteil gegenüber USA und Teilen Asiens.

3.6 Governance, Reformstau und „Mittelmaß-Kultur“

Indikatoren

  • Der BusinessEurope-Reformbarometer 2025 sieht die Reformfortschritte Österreichs 2024 in den Bereichen
    Steuern/Finanzen, Regulierung, Arbeitsmarkt und Innovation überwiegend als „unsatisfactory“. BusinessEurope
  • NEOS und die Industriellenvereinigung warnen öffentlich vor dem Verlust der Wettbewerbsfähigkeit und fordern u. a. Senkung der Lohnnebenkosten, Bürokratieabbau und Strompreiskompensation. lab.neos.eu+1

Personen & Parteien

  • Langjährige Verantwortung tragen vor allem die Großkoalitionen SPÖ–ÖVP (Gusenbauer, Faymann, Kern) sowie später die von der ÖVP geführten Regierungen mit FPÖ (Kurz I) und Grünen (Kurz II, Schallenberg, Nehammer).
  • Namen zentraler Akteure (Auswahl, nicht abschließend):
    • Bundeskanzler:innen: Wolfgang Schüssel, Alfred Gusenbauer, Werner Faymann, Christian Kern, Sebastian Kurz, Alexander Schallenberg, Karl Nehammer.
    • Finanzminister:innen: u. a. Karl-Heinz Grasser, Maria Fekter, Hans Jörg Schelling, Gernot Blümel, Magnus Brunner.
  • Wichtig ist: Die Schwächen sind systemisch, nicht das Werk einer einzelnen Person. Konsens-Demokratie, Sozialpartnerschaft und Länderföderalismus haben Reformen oft verwässert oder verzögert.

4. Die Folgen für Österreich

  1. Relativer Wohlstandsverlust
    • Österreich bleibt ein reiches Land, aber Einkommen und Produktivität wachsen langsamer als in führenden Vergleichsländern (Schweiz, Dänemark, teils osteuropäische Aufholer). WIFO+1
  2. Investitions- und Standortentscheidungen gegen Österreich
    • Hohe Arbeitskosten + Energiepreise + Regulierung → internationale Konzerne betrachten Österreich eher als mittelmäßigen als als Top-Standort. Das IMD-Ranking und die WIFO-Radar-Daten spiegeln genau das wider. WIFO+1
  3. Druck auf öffentliche Finanzen
    • Kombi aus hohen Dauerausgaben (Pensionen, Gesundheit, Transfers), schwächerem Wachstum und alternder Bevölkerung belastet Budget und schränkt fiskalischen Handlungsspielraum ein. EUR-Lex+2Bundesministerium für Finanzen+2
  4. Gefahr eines „europäischen Mittelmaß-Lock-in“
    • Mario Draghi warnt für die EU insgesamt vor einer „slow agony“, wenn Produktivität und Investitionen nicht massiv gesteigert werden – Österreich ist Teil dieser Entwicklung. Le Monde.fr+1

5. Fazit in einem Satz

Österreich hat seine Wettbewerbsfähigkeit nicht über Nacht verloren, sondern sie in einem über Jahre akkumulierten Reformstau verspielt – getragen von breitem parteiübergreifendem Konsens, hoher Abgabenquote, überregulierter Wirtschaft, unterentwickelter Innovationsdynamik und einer Politik, die Krisen verwaltet, statt Strukturen mutig zu verändern.- Josef David


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