Österreich 🇩đŸ‡č 1945 bis 2025 : Insel der Seligen oder Land ohne Eigenschaften?

Österreich 1945–2025: Von der „Insel der Seligen“ zum „Land ohne Eigenschaften“ ?!

EinfĂŒhrung: Selbstbild zwischen Idylle und IdentitĂ€tslosigkeit

Bruno Kreisky prĂ€gte in den 1970er-Jahren das Bild Österreichs als „Insel der Seligen“, womit er den erfolgreichen Aufbau des Sozialstaats, die immerwĂ€hrende NeutralitĂ€t und den sozialen Frieden der Zweiten Republik hervorhobde.wikipedia.org. DemgegenĂŒber steht die ironische Übertragung von Robert Musils „Mann ohne Eigenschaften“ auf Österreich – das „Land ohne Eigenschaften“ –, etwa durch den Schriftsteller Robert Menasse in den 1990ern, als Sinnbild fĂŒr fehlende klare IdentitĂ€t und unkritische Selbstzufriedenheitkatalog.borgmistelbach.ac.at. TatsĂ€chlich pendelt Österreichs Entwicklung seit 1945 zwischen Selbstlob und Selbstkritik. Im folgenden Bericht werden zentrale politische und gesellschaftliche Aspekte analysiert – von politischer Kultur und Sozialstaat ĂŒber die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit bis zu Migration, Bildung und Medien –, um kritisch zu beleuchten, ob Österreich eher die selige Insel oder ein Land ohne ausgeprĂ€gte Eigenschaften ist.

(Hinweis: Chronologische Meilensteine – Kreisky-Ära, Waldheim-AffĂ€re, EU-Beitritt 1995, FlĂŒchtlingskrise 2015, Corona-Pandemie u.a. – werden in die thematische Gliederung integriert.)

Politische Kultur und DemokratieverstÀndnis

Die Zweite Republik (ab 1945) etablierte eine Konkordanzdemokratie mit hoher StabilitĂ€t. SPÖ und ÖVP – die ehemaligen BĂŒrgerkriegsgegner von 1934 – teilten sich die Macht in großen Koalitionen (1945–1966) und institutionalisiertem Proporz. Dieses System der Verhandlungsdemokratie („Konsenspolitik“) schuf breite Akzeptanz fĂŒr die reprĂ€sentative Demokratie und minimierte offene Konflikte. Österreich erwarb dadurch in der Nachkriegszeit den Ruf einer konfliktarmen Insel der Seligende.wikipedia.org. Bis in die 1980er Jahre waren etwa Streiks extrem selten (auf „Sekunden pro Jahr“ gerechnet)de.wikipedia.org. Die politische Kultur war lange geprĂ€gt von informellen Absprachen hinter den Kulissen und einer gewissen Entpolarisierung im Parlament, die kritisiert wurde als „Stillstand“ oder “Parteienherrschaft”.

Doch seit den 1980er-Jahren traten VerĂ€nderungen ein: Neue Parteien gewannen an Einfluss (die GrĂŒnen zogen 1986 ins Parlament ein, die FPÖ wandelte sich unter Jörg Haider zur rechtspopulistischen Kraft). Die Ära Haider brachte scharfe Rhetorik in die Politik und sprengte 1986 die SPÖ-FPÖ-Koalition. Populismus und Polarisierung nahmen zu, besonders als 2000 die ÖVP mit der FPÖ (Schwarz-Blau) koalierte – ein Bruch mit der Konsens-Tradition, der EU-weite Sanktionen auslöste. Seither wechseln Große Koalitionen (z.B. 2007–2017) mit Phasen polarisierender Rechts-Regierungen (ÖVP-FPÖ 2000–2006, 2017–2019). Insgesamt blieb die Demokratie formell stabil, doch Vertrauen in Politik und Parteien erodierte in den letzten Jahren. Laut einer Werte-Studie 2021 sind zwar 95 % der BĂŒrger weiterhin ĂŒberzeugte Demokraten, aber nur zwei Drittel finden, dass Österreich tatsĂ€chlich demokratisch regiert werde (2018 waren es noch 84 %)profil.at. Unzufriedenheit mit dem Zustand der Demokratie stieg 2021 auf einen Rekordwert von 40 %profil.at – ein Alarmzeichen fĂŒr die politische Kultur. Skandale (z.B. die „Ibiza-AffĂ€re“ 2019 um FPÖ-Chef Strache oder KorruptionsvorwĂŒrfe gegen die Kurz-ÖVP) erschĂŒtterten das Vertrauen zusĂ€tzlich. In der Corona-Pandemie 2020/21 zeigte sich schließlich eine tiefe Spaltung in der Bevölkerung in BefĂŒrworter und Gegner staatlicher Maßnahmen – begleitet von einer Verrohung der Debattenkultur. Insgesamt hat sich Österreichs politische Kultur von konsensualer Harmonie hin zu stĂ€rkerer Konfrontation und Lagerbildung entwickelt. Die demokratischen Institutionen funktionieren weiterhin, doch Kreiskys selige Ruhe ist einer lauteren, konfliktreicheren politischen Landschaft gewichen.

Sozialpartnerschaft und Wohlfahrtsstaat

Ein zentraler Pfeiler der „Insel der Seligen“ war die österreichische Sozialpartnerschaft – das enge, korporatistische Zusammenwirken von Arbeitgeber- und ArbeitnehmerverbĂ€nden (Wirtschaftskammer, Gewerkschaftsbund, Arbeiterkammer, Landwirtschaftskammer, Industriellenvereinigung) mit der Regierungde.wikipedia.org. Seit den 1950er-Jahren wurden Löhne, Preise und Sozialstandards am Verhandlungstisch einvernehmlich geregelt (etwa in der ParitĂ€tischen Kommission)de.wikipedia.org. In den 1970er und 1980er Jahren galt die Sozialpartnerschaft als so mĂ€chtig, dass man von einer „Nebenregierung“ sprach – ohne sie ging kaum eine Entscheidungde.wikipedia.orgde.wikipedia.org. Die Vorteile dieses Modells waren sozialer Frieden, planbare Arbeitsbeziehungen (kaum Streiks) und der stetige Ausbau des Wohlfahrtsstaats. Gerade unter Kanzler Kreisky (1970–1983) wurde ein dichtes Netz sozialer Sicherung geknĂŒpft (Erhöhung von Pensionen, Familienbeihilfen, Ausbau des Gesundheitswesens etc.). Das trug wesentlich zum Mythos des prosperierenden, gerechten Österreich beide.wikipedia.org. Wie es ein Politiker formulierte: „Ein funktionierender und als gerecht empfundener Sozialstaat ist das Fundament fĂŒr die Sicherheit und StabilitĂ€t eines Landes“parlament.gv.at – und Garant der demokratischen Ordnung.

Allerdings zog die Sozialpartnerschaft auch Kritik auf sich. Linke wie rechte Oppositionsgruppen monierten ab den 1980ern einen intransparenten „Kuhhandel“, der Parlament und Opposition entmachtede.wikipedia.orgde.wikipedia.org. TatsĂ€chlich waren FPÖ, GrĂŒne und kleinere Parteien vom sozialpartnerschaftlichen Prozess weitgehend ausgeschlossende.wikipedia.org. Jörg Haider wetterte gegen das „Proporzsystem“ und gewann Zuspruch von denen, die das als verkrustete „Allparteienregierung“ empfandende.wikipedia.orgde.wikipedia.org. Mit der FPÖ-Regierungsbeteiligung 2000 wurde die Sozialpartnerschaft dann bewusst geschwĂ€cht. Trotzdem genießen die Sozialpartner in der Bevölkerung bis heute Ansehende.wikipedia.orgde.wikipedia.org – man schĂ€tzt den Kompromissgeist und die Rolle als StabilitĂ€tsfaktor. In Krisenzeiten – etwa Finanzkrise 2008 oder aktuell Inflation und Energiekrise – besinnt man sich auf das „österreichische Modell“ des runden Tisches. Insgesamt aber hat der ökonomische und gesellschaftliche Wandel (EU-Binnenmarkt, Globalisierung) den Einfluss der Sozialpartner reduziertde.wikipedia.org. Neue Herausforderungen wie atypische BeschĂ€ftigung oder Migration werden vom traditionellen Sozialdialog nur bedingt erfasst. Dennoch bleibt der Wohlfahrtsstaat intakt: Österreich rangiert bei Sozialausgaben pro Kopf und Indikatoren wie Lebenszufriedenheit weiterhin in europĂ€ischen Spitzenfeldern. Die Sozialpartnerschaft hat Österreich zwar nicht zu einem konfliktfreien Paradies gemacht, aber sie leistete einen wesentlichen Beitrag zum sozialen Frieden, der Kreisky einst zur „Insel der Seligen“ inspiriertede.wikipedia.org.

Österreichische NeutralitĂ€t und geopolitische Selbstverortung

Österreichs immerwĂ€hrende NeutralitĂ€t seit 1955 ist ein KernstĂŒck seines SelbstverstĂ€ndnissesde.wikipedia.org. Nach der Befreiung 1945 und zehn Jahren Alliierter Besatzung erlangte das Land 1955 durch den Staatsvertrag seine SouverĂ€nitĂ€t zurĂŒck – verbunden mit dem Versprechen, militĂ€risch neutral zu bleiben (Ă€hnlich der Schweiz)de.wikipedia.org. Die NeutralitĂ€t war zunĂ€chst eine Bedingung der Sowjetunion, entwickelte sich aber rasch zum identitĂ€tsstiftenden Mythos: Sie ermöglichte Österreich eine Rolle als Vermittler zwischen Ost und West im Kalten Krieg, als Gastgeber internationaler Organisationen (UNO-Sitz Wien seit 1980) und Konferenzort (z.B. KSZE 1975 in Helsinki mit österreichischer Beteiligung). Die Bevölkerung nahm die NeutralitĂ€t begeistert an – Umfragen zeigen, dass sie ĂŒber Jahrzehnte breit akzeptiert und als Teil der österreichischen IdentitĂ€t empfunden wirdde.wikipedia.org. Der 26. Oktober (Tag der NeutralitĂ€tserklĂ€rung 1955) ist Nationalfeiertag.

Allerdings war die NeutralitĂ€tspolitik nie streng „passiv“: Unter Kreisky betrieb Österreich eine aktive Außenpolitik, z.B. Nahost-Vermittlung, und engagierte sich in UNO-Missionen. Mit dem Ende des Kalten Krieges 1989 und dem EU-Beitritt 1995 stellte sich die Frage der NeutralitĂ€t neu. De facto hat Österreich seine BĂŒndnisfreiheit in der EU angepasst: Man beteiligt sich an der Gemeinsamen Sicherheits- und Außenpolitik der EU, Entsendung von Soldaten in EU- oder UNO-Friedensmissionen, und trat 1995 der NATO-Partnerschaft „Partnership for Peace“ beide.wikipedia.orgde.wikipedia.org. Innenpolitisch blieb ein NATO-Beitritt jedoch tabu – die ÖVP schlug ihn zwar zeitweise vor (besonders unter Kanzler Wolfgang SchĂŒssel in den 2000ern), stieß aber auf Widerstand von SPÖ, FPÖ und der meinungsstarken Kronen Zeitung, die das NeutralitĂ€ts-Ideal verteidigtende.wikipedia.org. Die Regierungen wagten es aufgrund der klaren Pro-NeutralitĂ€ts-Mehrheit der Bevölkerung nicht, offiziell von der „VollneutralitĂ€t“ abzurĂŒckende.wikipedia.org. In der Praxis ist Österreich also militĂ€risch neutral, aber politisch eng an den Westen gebunden. Dies zeigte sich 2022 deutlich: Beim russischen Angriff auf die Ukraine stellte sich Wien solidarisch auf die Seite der EU-Sanktionen – was von Russland prompt als „Aufgabe der NeutralitĂ€t“ kritisiert wurdede.wikipedia.org. Intern jedoch hĂ€lt laut Umfragen weiterhin eine Mehrheit der Österreicher am NeutralitĂ€tsprinzip fest und fordert zugleich eine ausreichende eigene Landesverteidigungde.wikipedia.org.

Die NeutralitĂ€t diente lange als bequemes Außenpolitik-Narrativ: Österreich als „Insel der Seligen“ inmitten der Blockkonfrontation, moralisch unangreifbar und sicher. Mit EU und Globalisierung ist dieses Narrativ komplexer geworden. Dennoch: Die immerwĂ€hrende NeutralitĂ€t bleibt ein emotionaler Anker der österreichischen IdentitĂ€t und ein Symbol dafĂŒr, sich als „besonders“ in der Welt zu sehen – eben nicht als Teil eines Machtblocks, sondern als kleiner Staat mit humanitĂ€rer Tradition (Stichwort „Schutzmacht der UNO“, Friedenstradition). Inwieweit das realistisch ist, bleibt umstritten. Fakt ist, dass Österreich sich geopolitisch gern als BrĂŒckenbauer und friedliche „WohlfĂŒhloase“ sieht – was gut zum Bild der seligen Insel passt, aber Kritikern zufolge manchmal in selbstgefĂ€llige Außenpolitik ohne klare Kanten mĂŒndet (Land ohne Eigenschaften im weltpolitischen Sinne).

VergangenheitsbewÀltigung: Umgang mit der NS-Vergangenheit

Nach 1945 tat sich Österreich lange schwer mit der Aufarbeitung seiner Rolle im Nationalsozialismus. Aufgrund der Moskauer ErklĂ€rung von 1943 stilisierte man sich als „erstes Opfer“ Hitlers – die sogenannte Opferthese dominierte das offizielle Geschichtsbild. Dieses Narrativ half, die junge Zweite Republik zu integrieren und vom deutschen Nationalismus abzugrenzen, fĂŒhrte aber auch zu VerdrĂ€ngung: Viele Österreicher waren willige Helfer des NS-Regimes, doch bis in die 1980er wurden TĂ€ter oft nicht zur Verantwortung gezogen. So waren ehemalige NSDAP-Mitglieder in Politik und Verwaltung der Nachkriegszeit keine Seltenheit; man schwieg ĂŒber die Verbrechen, um den inneren Frieden nicht zu gefĂ€hrden. Dieses bewusste Wegsehen gehörte gleichsam zum „GrĂŒndungsmythos“ der Zweiten Republik – „die Opferrolle war Grundlage unseres inneren Friedens nach 1945 und unserer Nachkriegs-IdentitĂ€t“, wie es Kurt Waldheim selbst einmal formuliertewiev1.orf.at.

Erst Skandale rĂŒttelten das Land wach. Der entscheidende Wendepunkt war die Waldheim-AffĂ€re 1986: Recherchen (u.a. vom profil) deckten auf, dass der PrĂ€sidentschaftskandidat und ehemalige UNO-GeneralsekretĂ€r Kurt Waldheim als Wehrmachtsoffizier in Kriegsverbrechen verstrickt gewesen sein könnte. Die EnthĂŒllung seiner verschwiegenen Vergangenheit löste heftige innen- und außenpolitische Debatten auswiev1.orf.at. Waldheim gewann zwar trotzig die Wahl (Slogan „Jetzt erst recht“), doch der internationale Druck – etwa die US-„Watchlist“-Setzung Waldheims 1987 – und die innere Zerknirschung bewirkten einen MentalitĂ€tswandel. Bundeskanzler Franz Vranitzky bekannte 1991 vor dem Parlament erstmals Mitschuld Österreichs an Nazi-Verbrechen. Historikerkommissionen wurden eingesetzt, GedenkstĂ€tten ausgebaut, Restitutions- und EntschĂ€digungsprogramme gestartet (z.B. Fonds fĂŒr Zwangsarbeiter in den 2000ern). Beobachter sind sich einig, dass die Waldheim-Debatte der „Startschuss fĂŒr die lĂ€ngst fĂ€llige Aufarbeitung der NS-Vergangenheit“ warwiev1.orf.at. VerdrĂ€ngungsmechanismen, die zuvor „zum guten Ton gehörten“, waren plötzlich nicht mehr salonfĂ€higwiev1.orf.at.

Waldheim selbst rĂ€umte Jahrzehnte spĂ€ter ein, es sei „notwendig, ja unverzichtbar“ gewesen, von der reinen Opferrolle Abschied zu nehmenwiev1.orf.at. Seitdem hat Österreich – wenn auch spĂ€t – wichtige Schritte der VergangenheitsbewĂ€ltigung unternommen. In den 1990ern wurde z.B. der Holocaust-Mahnmal am Judenplatz in Wien errichtet (2000), Schulunterricht und Forschung zur NS-Zeit intensiviert (Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstands, etc.). Trotzdem blieb die Aufarbeitung nicht ohne RĂŒckschlĂ€ge: Rechtsextreme oder populistische Politiker versuchten immer wieder, Relativierungen salonfĂ€hig zu machen (etwa FPÖ-Politiker mit entgleisenden SprĂŒchen ĂŒber die „Ordnungspolitik“ im Dritten Reich etc.). Solche FĂ€lle lösten aber breite Empörung aus. Heute besteht weitgehend Konsens, dass Österreich sowohl Opfer als auch TĂ€ter war – diese „Janusköpfigkeit“ der Geschichte ist akzeptiert. Der Prozess der VergangenheitsbewĂ€ltigung dauert an, etwa in der Auseinandersetzung um Straßennamen mit NS-Belastung oder die EntschĂ€digung fĂŒr spezifische Opfergruppen. Insgesamt hat Österreich hier den Wandel vom selbstzufriedenen „Land ohne Eigenschaften“ (das seine dunklen Flecken ignorierte) hin zu einem selbstkritischeren Land geschafft. Dieser schmerzhafte Lernprozess war notwendig, um den demokratischen Wertekanon glaubhaft zu untermauern. Bruno Kreiskys „Insel der Seligen“ war in diesem Punkt jedenfalls eine Illusion – es brauchte Druck von innen und außen, damit Österreich sich seiner Vergangenheit stellte und damit seine kulturelle IdentitĂ€t ehrlicher definierte.

Migration, Integration und DiversitÀt

Österreich war nach 1945 zunĂ€chst ein Auswanderungs- und Transitland (viele Menschen flohen vor und nach Kriegsende aus dem zerstörten Mitteleuropa, oft via Österreich). Doch ab den 1960er-Jahren wurde es verstĂ€rkt zum Einwanderungsland. Ein erster Schub kam durch die Gastarbeiter-Anwerbung: Zur Zeit des Wirtschaftsbooms holte man ab 1964 ArbeitskrĂ€fte aus Jugoslawien und der TĂŒrkei ins Land. Diese zunĂ€chst als temporĂ€r gedachten Migranten blieben hĂ€ufig dauerhaft, grĂŒndeten Familien – die Basis der heutigen tĂŒrkischstĂ€mmigen und balkanstĂ€mmigen Minderheiten. In den 1970er-Jahren war Migration politisch wenig thematisiert; Integration erfolgte beilĂ€ufig im Arbeitsalltag, aber es gab kaum Konzepte, da man annahm, viele wĂŒrden zurĂŒckkehren. In den 1980ern Ă€nderte sich das Bild: Die Zahl der dauerhaft AnsĂ€ssigen stieg, und erste Spannungen traten auf. 1990 lebten bereits Hunderttausende Personen mit Migrationshintergrund in Österreich.

Weitere Wellen folgten mit geopolitischen UmbrĂŒchen: Die Kriege im zerfallenden Jugoslawien (1991–95) brachten zehntausende FlĂŒchtlinge aus Bosnien und Kroatien, die teils aufgenommen und integriert wurden (viele blieben). 2004/2007 ermöglichte die EU-Osterweiterung neuen Zuzug aus den NachbarlĂ€ndern (Slowakei, Ungarn, Polen, RumĂ€nien). Am deutlichsten ins öffentliche Bewusstsein rĂŒckte das Thema aber wĂ€hrend der FlĂŒchtlingskrise 2015: Im Zuge des syrischen BĂŒrgerkriegs und anderer Konflikte erreichten im SpĂ€tsommer 2015 rund 90.000 Asylsuchende Österreich – innerhalb weniger Monate eine so große Zahl wie seit 1956 (Ungarn-Aufstand) nicht mehr. Das Land erlebte einerseits eine beispiellose Welle der Hilfsbereitschaft (BĂŒrger halfen in Traiskirchen und am Westbahnhof Wien mit Spenden, es gab Applaus fĂŒr ankommende Familien)orf.at. Andererseits verschĂ€rfte sich die politische Polarisierung: Die Regierung (SPÖ-ÖVP) schwankte zwischen „Willkommen“ und Grenzmanagement, wĂ€hrend die rechte Opposition (FPÖ) Zulauf mit Angstkampagnen gegen „Überfremdung“ bekam. Die FlĂŒchtlingskrise wurde zur „Zerreißprobe“ fĂŒr den gesellschaftlichen Zusammenhalt und prĂ€gte die folgenden Wahlen – 2016 scheiterte beinahe ein rechtspopulistischer Kandidat (Norbert Hofer) nur knapp bei der BundesprĂ€sidentenwahl, 2017 gewann die ÖVP-FPÖ Koalition unter dem Motto strenger Migrationspolitik.

Faktisch haben Migration und DiversitĂ€t Österreich nachhaltig verĂ€ndert: Im Jahr 2022 hatte bereits etwa ein Viertel der Bevölkerung Migrationshintergrund (rund 2,5 Millionen Menschen)orf.atorf.at. Der Anteil der im Ausland geborenen Einwohner erreichte 2024 etwa 27,8 %, gegenĂŒber 21,4 % im Jahr 2015orf.at. Ohne Zuwanderung wĂŒrde Österreichs Bevölkerung heute schrumpfen – das Bevölkerungswachstum der letzten Jahrzehnte beruht ausschließlich auf Migrationorf.atorf.at. Die grĂ¶ĂŸten Zuwanderergruppen kommen aus Deutschland, RumĂ€nien, TĂŒrkei, Serbien sowie neuerdings Syrien und der Ukraineorf.at. Diese Vielfalt spiegelt sich in den Schulen, am Arbeitsmarkt und im Stadtbild wider. Wien ist heute eine multiethnische Metropole, in der knapp die HĂ€lfte der Einwohner im Ausland geboren ist.

Politisch hat das Thema Migration immer wieder Kontroversen ausgelöst: Schon 1993 organisierte die FPÖ unter Haider das Volksbegehren „Österreich zuerst“ gegen Überfremdung, das 416.000 Unterschriften bekam – ein erster Indikator fĂŒr fremdenfeindliche Stimmungen. Die Regierungen reagierten mit teils restriktiveren AuslĂ€ndergesetzen (1992, 1997). Ab den 2000ern entstand langsam eine Integrationspolitik: 2010 wurde ein Staatssekretariat (spĂ€ter Bundesministerium) fĂŒr Integration geschaffen, Integrationkurse und Deutschtests eingefĂŒhrt. Dennoch bleibt das Spannungsfeld groß: Ein Teil der Gesellschaft fordert Offenheit und sieht DiversitĂ€t als Bereicherung, ein anderer Teil fĂŒrchtet IdentitĂ€tsverlust und Belastungen fĂŒr den Sozialstaat. Insbesondere das Zusammenleben mit der muslimischen Minderheit (etwa 8 % der Bevölkerung 2021statistik.atstatistik.at) ist Dauerthema – von Debatten ĂŒber das Kopftuch in Schulen bis zu Fragen der Parallelgesellschaften. Die Regierung versuchte 2017 ein Kopftuchverbot fĂŒr Volksschulkinder, das jedoch 2020 vom Verfassungsgerichtshof als diskriminierend aufgehoben wurdevfgh.gv.at.

Trotz aller Probleme zeigen Umfragen auch Positives: Eine Mehrheit der Menschen mit Migrationshintergrund fĂŒhlt sich Österreich mittlerweile stĂ€rker verbunden als ihrem Herkunftslandorf.at. Viele ehemals Fremde sind zu MitbĂŒrgern geworden – sichtbares Zeichen sind etwa die tausenden EingebĂŒrgerten jĂ€hrlich (auch wenn die EinbĂŒrgerungskriterien streng bleiben: meist 10 Jahre Aufenthalt und Verzicht auf alte StaatsbĂŒrgerschaft). Integration erfolgt vor allem im Bildungswesen und am Arbeitsmarkt. Hier besteht Aufholbedarf: Personen mit auslĂ€ndischen Wurzeln sind ĂŒberdurchschnittlich oft gering qualifiziert oder arbeitslos. Doch es gibt auch Erfolgsgeschichten – vom Gastarbeiterkind zum Unternehmer oder Minister (z.B. Justizministerin Alma Zadić mit bosnischer Herkunft). Insgesamt hat Österreich den Wandel zu einer Einwanderungsgesellschaft durchlebt, nicht reibungsfrei, aber doch ohne grĂ¶ĂŸere sozialen Unruhen. Der gesellschaftliche Diskurs darĂŒber bleibt emotional – er trennt gewissermaßen das „Insel der Seligen“-Narrativ (harmonisches Miteinander) von einem „Land ohne Eigenschaften“, in dem es an klarem ZugehörigkeitsgefĂŒhl mangelt. Die kommenden Jahre werden zeigen, ob es gelingt, ein inklusives nationales Wir-GefĂŒhl zu entwickeln, das die DiversitĂ€t als Teil der österreichischen IdentitĂ€t annimmt.

Bildung, Wissenschaft und Innovationskultur

In der Bildungspolitik vollzog Österreich nach 1945 den Übergang von einem elitĂ€ren zu einem durchlĂ€ssigeren System – allerdings langsamer als manche Nachbarn. Die Kreisky-Regierung forcierte ab 1970 umfassende Bildungsreformen: EinfĂŒhrung der Schulbuch-Aktion (Gratis-SchulbĂŒcher) und der SchĂŒlerfreifahrt, Ausbau der Schulen im lĂ€ndlichen Raum, v.a. aber der freie Hochschulzugang (1972 Abschaffung der StudiengebĂŒhren). Kreisky grĂŒndete zudem 1975 ein eigenes Wissenschaftsministerium (unter Hertha Firnberg), was Forschung und Hochschulen politisch aufwertetede.wikipedia.org. In dieser Ära stieg die Zahl der Maturanten und Studierenden sprunghaft – Bildung wurde breiteren Schichten zugĂ€nglich („Chancenausgleich“). Österreich hatte also seine bildungspolitische Insel-der-Seligen-Phase, in der großzĂŒgig investiert wurde und Aufbruchsstimmung herrschte.

Doch nicht alle Ziele wurden erreicht: Der Plan, das strikte duale Schulsystem aus Gymnasium vs. Hauptschule zugunsten einer Gesamtschule zu ĂŒberwinden, scheiterte am Widerstand konservativer KrĂ€fte (das bis heute bestehende frĂŒhe Trennen der 10-JĂ€hrigen nach Volksschule ist ein umstrittener Punkt geblieben). In den 1980ern und 90ern stagnierte vieles; es war von „Reformstau“ die Rede. Erst die PISA-Schocks um 2000 – mittelmĂ€ĂŸige Testergebnisse der 15-JĂ€hrigen – fĂŒhrten zu Umdenken und kleineren Reformen (z.B. Neue Mittelschule statt Hauptschule, standardisierte Matura). International liegt Österreichs Schulsystem nach wie vor im Mittelfeld: solide Grundbildung, aber weiterhin starke AbhĂ€ngigkeit des Bildungserfolgs vom Elternhaus. Dieses Problem versucht man jĂŒngst mit Ausbau der Ganztagsschulen und elementarpĂ€dagogischen Reformen anzugehen.

Im Hochschulsektor wechselte die Politik mehrfach: Nach 2001 wurden StudiengebĂŒhren wieder kurzfristig eingefĂŒhrt (ÖVP-FPÖ), spĂ€ter aber teils erlassen oder durch ZugangsbeschrĂ€nkungen ersetzt. Die UniversitĂ€ten erhielten 2002 mehr Autonomie (UG 2002), was eine Modernisierung brachte. Wissenschaftlich hat Österreich in einigen Bereichen Tradition (z.B. Quantenphysik mit NobelpreistrĂ€ger Zeilinger, Klimaforschung mit IPCC-Beteiligung) und seit EU-Beitritt auch Zugang zu europĂ€ischen Forschungsprojekten. Dennoch galt lange ein gewisses Anti-Intellektualismus-Klischee: populĂ€re Kultur wurde höher geschĂ€tzt als akademische. Das hat sich gewandelt – nicht zuletzt, weil Innovation als Wirtschaftsargument erkannt wurde.

Die Innovationskultur des Landes hat sich in den letzten zwei Jahrzehnten deutlich verbessert: Die F&E-Ausgaben wurden kontinuierlich gesteigert. Österreich ĂŒbertrifft seit 2011 jedes Jahr das EU-Ziel von 3 % Forschungsquote gemessen am BIPbmb.gv.atbmb.gv.at. 2020 lag die Forschungsquote bei ~3,2 %, dem dritthöchsten Wert in der EU (nach Schweden und Belgien)bmb.gv.at – in den 1980ern war sie noch deutlich niedriger. Diese Investitionen – gefördert etwa durch die steuerliche ForschungsprĂ€mie – haben ein dynamisches Start-up- und Technologie-Umfeld begĂŒnstigt. Wien und Graz entwickeln sich zu Zentren fĂŒr IT und Life Sciences, Linz fĂŒr Digitalisierung und Industrie 4.0. In internationalen Innovationsrankings gehört Österreich inzwischen zur erweiterten Spitzengruppe. Gleichzeitig bleibt die Bildungskultur ambivalent: WĂ€hrend in der Spitzenforschung viel erreicht wird, gibt es in der Breite Herausforderungen (z.B. Lehrlingsmangel, digitale Kompetenzen an Schulen).

Kulturell ist die WertschĂ€tzung von Bildung gestiegen – mehr junge Leute machen Matura als je zuvor, und ein Studium ist fĂŒr viele selbstverstĂ€ndlich geworden. Allerdings klagen Arbeitgeber ĂŒber FachkrĂ€ftemangel in technischen Berufen; umgekehrt gibt es fĂŒr Uni-Absolventen nicht immer passende Jobs im Land, was zu Brain-Drain fĂŒhren kann. Ein „Land ohne Eigenschaften“ ist Österreich in Sachen Bildung sicher nicht: Man hat eine solide Basis geschaffen. Aber ob man eine „Insel der Seligen“ mit Weltklasse-Schulen und UniversitĂ€ten ist, darf bezweifelt werden – dazu besteht zu viel Reformbedarf (Stichwort: frĂŒhe Selektion, geringe soziale Durchmischung). Die Innovationskultur zeigt jedoch, dass Österreich durchaus zu kontinuierlicher Verbesserung fĂ€hig ist, wenn ein Ziel politisch priorisiert wird (wie die Steigerung der Forschungsleistung). Zusammenfassend: Vom einst kaiserlich-konservativen Bildungssystem hat sich Österreich zu einer moderneren Wissensgesellschaft gewandelt, auch dank Kreiskys Grundlagenarbeit. Es gilt aber weiter, Bildungsgerechtigkeit herzustellen und Innovationsgeist breit zu verankern, damit das Land im globalen Wettbewerb nicht an Profil verliert.

Medienlandschaft, öffentlicher Diskurs und Polarisierung

Die österreichische Medienlandschaft ist geprĂ€gt von einigen Besonderheiten: Ein kleiner Markt mit ungewöhnlich reichweitenstarken Boulevardmedien und einem großen öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Die Kronen Zeitung etwa war jahrzehntelang mit Abstand die meistgelesene Tageszeitung; 2005 lasen fast die HĂ€lfte aller Österreicher die Krone – relativ zur Einwohnerzahl ein Weltrekorddiemedien.at. Bis heute erreicht sie, gedruckt und online kombiniert, tĂ€glich etwa 28 % der Bevölkerungdiemedien.at. Diese Stellung macht die Krone zum „politisch einflussreichsten und gefĂŒrchtetsten Medium“ des Landesdiemedien.atdiemedien.at. Über Jahrzehnte trieb sie mit Kampagnen die Regierungspolitik vor sich her und konnte Politiker stĂŒrzen oder Projekte verhindern. „Noch immer fĂŒrchten Österreichs Regierende den Boulevardriesen, der geschickt Wut schĂŒrt. Man versucht, die Krone (und andere Boulevardmedien) mit Informationen und öffentlichem Werbegeld freundlich zu stimmen.“diemedien.at Diese Aussage illustriert die ungesunde NĂ€he zwischen Politik und Medien, die sich z.B. in der sogenannten InseratenaffĂ€re (ÖVP unter Kurz) widerspiegelte: Staatliche Inserate wurden an bestimmte Medien vergeben, wofĂŒr man im Gegenzug wohlwollende Berichterstattung erwartete. Solche Verflechtungen beschĂ€digen die Pressefreiheit und wurden in den letzten Jahren verstĂ€rkt thematisiert.

Neben der Krone gibt es weitere Boulevardzeitungen (Heute, Österreich/Oe24), die ebenfalls hohe Auflagen erzielen, aber oft fĂŒr populistische und polarisierende Berichterstattung kritisiert werden. Auf der anderen Seite stehen QualitĂ€tsmedien wie Der Standard (liberal), Die Presse (bĂŒrgerlich-konservativ) oder profil (Wochenmagazin), die einen faktenorientierten Journalismus pflegen. Doch deren Reichweiten sind deutlich geringer. Der öffentlich-rechtliche ORF hat als landesweiter Broadcaster einen Bildungs- und Integrationsauftrag und genießt relativ großes Vertrauen – war aber auch immer Objekt parteipolitischer Einflussnahme (die Besetzung von FĂŒhrungspositionen nach Proporz ist legendĂ€r). Bis in die 1990er hatte der ORF Quasi-Monopol im TV; mit Privat-TV (ATV, Puls4) und besonders dem Aufstieg von ServusTV in den 2010ern kam Konkurrenz. ServusTV, im Besitz von Red Bull, positionierte sich mitunter als Anti-Mainstream-Stimme (etwa kritisch gegenĂŒber Corona-Maßnahmen).

Die Digitalisierung hat das Medienverhalten radikal verĂ€ndert: Online-News und soziale Medien (Facebook, YouTube) spielen heute eine riesige Rolle im öffentlichen Diskurs. Dies ermöglichte neue Stimmen – positive wie negative. So entstanden alternative Plattformen, Blogs und auch verschwörungstheoretische KanĂ€le, die wĂ€hrend der Pandemie viele AnhĂ€nger fanden. Die Folge ist eine stĂ€rkere Fragmentierung der Öffentlichkeit: FrĂŒher gaben einige Leitmedien den Ton an, heute existieren „EchorĂ€ume“ fĂŒr jedes Lager. Studien belegen, dass die selektive Mediennutzung die gesellschaftliche Spaltung verstĂ€rkt hat, etwa in der Corona-Fragescience.apa.atscience.apa.at. Konsumierten Menschen vorwiegend ORF-Nachrichten, schĂ€tzten sie Covid-19 als gefĂ€hrlicher ein und befĂŒrworteten Maßnahmen eher; wer hauptsĂ€chlich ServusTV-Kommentare wie „Der Wegscheider“ sah, neigte zu Verharmlosung und Ablehnung der Maßnahmenscience.apa.atscience.apa.at. Durch Confirmation Bias verstĂ€rkten sich bestehende Einstellungen wechselseitig – ein „Aufschaukeln“, das laut Kommunikationsforschung zur Polarisierung der Gesellschaft beitrugscience.apa.at.

Bereits vor Corona gab es Anzeichen erhitzter Debatten: Themen wie Migration (2015), EU oder Klimaschutz fĂŒhrten zu teils hasserfĂŒllten Online-Kommentaren. Im klassischen Medienbetrieb versucht man gegenzusteuern – z.B. durch Moderation von Foren, Faktenchecks, aber auch durch mehr Meinungsvielfalt auf den Kommentar-Seiten. Trotzdem ist ein Anstieg von Medien-Skepsis spĂŒrbar, gerade bei AnhĂ€ngern rechter Parteien. Begriffe wie „LĂŒgenpresse“ fanden zwar nie so weite Verbreitung wie in Deutschland, aber Umfragen zeigen, dass ein wachsender Teil der Bevölkerung den „etablierten Medien“ skeptisch gegenĂŒberstehtoe1.orf.at. Die Pandemie hat diese Grundskepsis weiter verschĂ€rftoe1.orf.at. FĂŒr die Demokratie ist das eine Herausforderung: Ohne gemeinsamen Informationskern wird der rationale Diskurs schwierig.

Dennoch gibt es positive Entwicklungen: Die Medienvielfalt ist trotz Konzentration vorhanden, investigative Journalist:innen (z.B. Bastian Obermayer, der die Ibiza-AffĂ€re Video veröffentlicht hat) leisten wichtige AufklĂ€rung, und Initiativen zur Medienbildung sollen BĂŒrgern helfen, Desinformation zu erkennen. Österreichs Pressefreiheit rangiert laut Reporter ohne Grenzen im soliden Mittelfeld, wenngleich die NĂ€he zwischen Politik und Boulevard immer wieder Kritik hervorruft. Öffentlich ausgetragene Polarisierung gehört inzwischen fast zum Alltag – etwa wenn bei ORF-TV-Duellen oder in ZiB 2-Interviews harte Wortgefechte stattfinden, was es in den „konsensseligen“ Jahrzehnten davor kaum gab. Dieser schĂ€rfere öffentliche Diskurs kann als Zeichen einer normalisierten, pluralistischen Demokratie gesehen werden – oder als gefĂ€hrliche Erosion des einstigen gesellschaftlichen Zusammenhalts. Vermutlich trifft beides zu einem gewissen Grad zu. Jedenfalls ist die Zeit, in der Österreichs Medienwelt ĂŒberschaubar und halbwegs kontrolliert war (Insel der Seligen im Sinne von Ruhe), vorbei. Stattdessen spiegelt sie nun die ganze WidersprĂŒchlichkeit des „Landes ohne Eigenschaften“: vielfĂ€ltig, aber auch unĂŒbersichtlich; mit großem kritischem Potenzial, aber zugleich anfĂ€llig fĂŒr Stimmungsmache.

Gesellschaftlicher Zusammenhalt und nationale IdentitÀt

Die Frage nach dem gesellschaftlichen Zusammenhalt zieht sich wie ein roter Faden durch die Zweite Republik. Nach 1945 bestand eine große Einigkeit, das verwĂŒstete Land gemeinsam wiederaufzubauen – die politische Lagerbildung (Rot vs. Schwarz) wurde durch die Koalitionen gezĂ€hmt, gemeinsame Feindbilder (z.B. der Kommunismus im Kalten Krieg) schweißten zusammen. Dieses „Wir-GefĂŒhl“ der frĂŒhen Zweiten Republik basierte freilich auch auf Ausgrenzung (ehemalige Nazis wurden zunĂ€chst ausgespart oder integriert ohne viel Aufhebens) und auf der erwĂ€hnten Opferrolle. Dennoch: Die hohe soziale Sicherheit und der national geteilte Wohlstand (bis weit in die Mittelschicht hinein) sorgten fĂŒr ein GefĂŒhl der Geborgenheit. Der Begriff „Insel der Seligen“ spielte genau darauf an – ein Land, das von den stĂŒrmischen Wellen außenrum verschont bleibt und in dem ein Großteil der BĂŒrger sich aufgehoben fĂŒhltde.wikipedia.org. Dieses Selbstbild zeigte sich z.B. in der beliebten Redewendung „Haben wir es nicht gut in Österreich?“ – implizierend, dass es anderswo viel schlechter sei. TatsĂ€chlich gehörten Indikatoren wie Lebensstandard, Arbeitsfrieden und Wohlstandsverteilung in den 60er/70er Jahren zu den besten weltweit. Österreich war homogener als heute: kulturell (ĂŒber 90 % Katholiken), ethnisch (kaum Zuwanderung bis auf Gastarbeiter, die erst langsam sichtbar wurden), sprachlich (fast ausschließlich Deutsch, abgesehen von kleinen Minderheiten in KĂ€rnten, Burgenland) – all das erleichterte einen gewissen Konsens ĂŒber Werte und Lebensweise.

Doch mit dem gesellschaftlichen Wandel ab den 1980ern traten Bruchlinien hervor: Stadt vs. Land, Linksliberal vs. Rechtskonservativ, „Altösterreicher“ vs. Neueinwanderer. Der Zusammenhalt wurde durch DiversitĂ€t auf die Probe gestellt, aber auch durch wirtschaftliche Entwicklungen (steigende Arbeitslosigkeit in den 1980ern gegenĂŒber VollbeschĂ€ftigung in den Nachkriegsjahrzehnten). Die 2000er Jahre brachten dann eine Politisierung entlang neuer Konfliktlinien: globalisierungskritische Bewegungen vs. Neoliberale, EU-BefĂŒrworter vs. EU-Skeptiker, Traditionalisten vs. Kosmopoliten. WĂ€hrend frĂŒher SPÖ und ÖVP zusammen ĂŒber 90 % WĂ€hleranteil hatten (ein Zeichen, dass fast alle im großen Zelt Platz fanden), fiel ihr Anteil unter 60 %, und neue Parteien fragmentierten das Feld. Gesellschaftlicher Zusammenhalt muss seither neu ausgehandelt werden.

Dennoch zeigt sich SolidaritĂ€t in Krisen immer noch stark: Bei Naturkatastrophen (HochwĂ€sser, Lawinen) oder zuletzt in der FlĂŒchtlingskrise 2015 haben viele Österreicher spontan geholfen. Überhaupt ist das Ehrenamt im internationalen Vergleich hoch entwickelt (Freiwillige Feuerwehren, Rettungswesen, Sport- und Kulturvereine). Dieses dichte Vereinsleben – oft getragen von Kirche oder Gemeinden – fungiert als sozialer Kitt. Auch wĂ€hrend der Corona-Pandemie hielten die meisten sich an Regeln zum Schutz der Mitmenschen; die Polarisierung betraf zwar die öffentliche Debatte, aber die Mehrheit agierte durchaus rĂŒcksichtsvoll (Impfquote schließlich um 75 % bei Erwachsenen). Allerdings hat Corona auch Risse aufgezeigt: eine lautstarke Minderheit fĂŒhlte sich ausgegrenzt und radikalisierte sich teils (Demonstrationen mit rechtsextremer Beteiligung etc.).

Was die nationale IdentitĂ€t betrifft, so hat Österreich einen interessanten Wandel durchlaufen: 1945 fĂŒhlten sich viele noch als „Deutsche“ im kulturellen Sinn. Doch durch die Abgrenzung nach dem Krieg und den Erfolg des eigenen Staates entwickelte sich in wenigen Jahrzehnten eine starke österreichische IdentitĂ€t. In Umfragen bezeichnen sich heute die meisten als „Österreicher, nicht Deutsche“ – eine enorme VerĂ€nderung gegenĂŒber 1945. Literaten wie Robert Menasse sprachen 1992 zwar von einem „Land ohne Eigenschaften“, das seine IdentitĂ€t nie aktiv gestaltet, sondern aus ZufĂ€llen ableitetkatalog.borgmistelbach.ac.at. Doch faktisch gibt es zahlreiche Eigenschaften, die BĂŒrger als typisch österreichisch ansehen: vom Hang zur GemĂŒtlichkeit und dem Wert der LebensqualitĂ€t, ĂŒber kulturelle Traditionen (Musik, Kaffeehaus, Kulinarik) bis hin zu politisch-sozialen Besonderheiten (NeutralitĂ€t, Sozialpartnerschaft). Gerade der EU-Beitritt 1995 hat interessanterweise nicht zu einer Auflösung der IdentitĂ€t gefĂŒhrt, sondern eher zu deren Festigung im Unterschied zu den Deutschen. Die Österreicher sind heute stolz auf ihr eigenes Land (in Umfragen sehr hohe Zufriedenheitswerte mit dem „Land, in dem man lebt“). Allerdings gibt es zugleich Sub-IdentitĂ€ten (z.B. starke BundeslĂ€nder-Patriotismen – Tiroler, Steirer etc. – oder Migrationsgruppen, die HerkunftsbezĂŒge pflegen).

Der gesellschaftliche Zusammenhalt wird aktuell v.a. durch soziale Ungleichheit und politische Polarisierung strapaziert: Die Schere zwischen arm und reich hat sich leicht geöffnet (wenn auch weniger als anderswo in der EU, dank Umverteilung). Politisch ist das Land gespalten in ein eher kosmopolitisches, urbanes Lager und ein eher traditionell-nationales, peripheres Lager – was sich in Wahlergebnissen (Stichwort BundesprĂ€sidentenwahl 2016: Westliches, stĂ€dtisches Österreich grĂŒn, lĂ€ndlicher Norden blau) ablesen ließ. Dennoch funktioniert das Alltagsleben friedlich; es gibt keine unĂŒberbrĂŒckbaren Fronten im zivilen Miteinander.

Zusammengefasst: Der innere Zusammenhalt Österreichs war lange außergewöhnlich hoch – fast idyllisch –, steht aber in jĂŒngerer Zeit vor Erprobungen. Manche fĂŒrchten, das Land verliere seinen kleinteiligen Charme und driftet auseinander (*„Land ohne Eigenschaften“ im Sinne von Orientierungsverlust). Andere betonen, Österreich habe schon oft bewiesen, dass es Zusammenhalt neu stiften kann – nach 1945, nach 1986 (Waldheim), auch nach Corona wird es Wege finden. Die gemeinsame Geschichte (von der Habsburgerzeit bis zur Moderne) bietet jedenfalls genug narrativen Stoff, um ein verbindendes Wir-GefĂŒhl zu nĂ€hren. Ob die kommenden Generationen dies annehmen, wird sich zeigen.

Wandel durch Globalisierung und EU-Mitgliedschaft

Globalisierung und der EU-Beitritt 1995 bilden eine weitere SchlĂŒsseldimension in der Entwicklung Österreichs. Jahrzehntelang lag das Land am Rand der „westlichen Welt“, abgeschottet durch den Eisernen Vorhang nach Osten. Die Wirtschaft war bis in die 1980er relativ geschĂŒtzt: Der Staat betrieb großen Anteil der Industrie (Verstaatlichte Industrie in Stahl, Chemie, Öl etc.), Handel und Kapitalverkehr waren reguliert. Globalisierung bedeutete hier zunĂ€chst: 1970er Ölkrisen und 1980er Strukturwandel brachten Arbeitslosigkeit, aber Österreich reagierte mit aktiver Strukturpolitik (Verstaatlichte stĂŒtzen, neue Industriezweige fördern). In dieser Phase konnte man sich fast eine Insel-MentalitĂ€t leisten – die österreichische Wirtschaft (oft Austria AG genannt) war ein in sich geschlossener Kosmos, Sozialpartnerschaft und Staat lenkten viel. Bruno Kreisky finanzierte z.B. VollbeschĂ€ftigung auch durch Schulden, um die globale Rezession abzufedern.

Mit den spĂ€ten 1980ern Ă€nderte sich das rapide: Der Fall des Eisernen Vorhangs 1989 öffnete gewaltige Chancen – österreichische Firmen expandierten nach Osteuropa (Banken, Bau, Handel – z.B. Raiffeisen Bank, Strabag, Erste Bank – eroberten MĂ€rkte in Ungarn, Tschechien, spĂ€ter Balkan). Gleichzeitig kam Wettbewerb ins Land: Billigere Produkte aus dem Ausland, internationale Konzerne, die sich ansiedelten (etwa deutsche Handelsketten). Die EU-Mitgliedschaft ab 1995 besiegelte diese Integration: Binnenmarkt, Wegfall der Zölle, gemeinsamer Euro (Österreich fĂŒhrte 2002 den Euro ein). Anfangs gab es Ängste vor Preissteigerungen und Übernahme heimischer Betriebe durch AuslĂ€nder. Teils traf das ein – etwa wurden Traditionsunternehmen von Multis gekauft. Doch unterm Strich profitierte Österreich enorm: Der EU-Beitritt brachte zusĂ€tzliches Wirtschaftswachstum, Exportrekorde (besonders nach Deutschland und in die neuen osteuropĂ€ischen EU-LĂ€nder) und Direktinvestitionen. Die Arbeitslosenquote blieb bis in die 2010er relativ niedrig im EU-Vergleich. Strukturelle VerĂ€nderungen fanden allerdings statt: Viele staatsnahe Betriebe wurden privatisiert (Voestalpine, Telekom, Banken), manche Branchen bauten massiv Personal ab (Bergbau, Textilindustrie gingen fast ganz verloren). DafĂŒr entstanden neue Jobs im Dienstleistungssektor, Tourismus und High-Tech.

Gesellschaftlich fĂŒhrte die Globalisierung zu einer gewissen Verunsicherung bei Teilen der Bevölkerung – ein NĂ€hrboden fĂŒr populistische Kritik (die FPÖ agitierte gegen „Ausverkauf der Heimat“ oder EU-BĂŒrokratie). 1994 stimmten aber 66,6 % der Österreicher fĂŒr den EU-Beitrittde.wikipedia.org, ein deutliches Votum. Die UnterstĂŒtzung zur EU pendelt seither, war aber meist positiv. Krisen wie die Eurokrise 2008 oder Migrationskrise 2015 minderten das Vertrauen phasenweise, doch ein Öxit war nie ernsthaft in Sicht. Vielmehr ist Österreich im EU-Mehrauen-Verbund oft pragmatisch: man macht mit, soweit es nĂŒtzt, und pflegt zugleich eine gewisse Schmollecke (etwa bei Nettozahlungen oder landwirtschaftlichen Quoten). Der EU-Beitritt war jedenfalls ein epochaler Einschnitt: Er bedeutete das Ende einer teilweise provinziellen SelbstgenĂŒgsamkeit. Österreich musste plötzlich europĂ€ische Verantwortung mittragen – z.B. presidierte man 1998 erstmals den EU-Rat, stieß Initiativen an (Osterweiterung mitgestaltet, Umweltstandards etc.). Die Bevölkerung profitierte auf der Mikroebene: Reisefreiheit, Studium im Ausland (Erasmus-Programm), keine Roaming-GebĂŒhren – viele jĂŒngere Menschen sind durch die EU weltgewandter. Globalisierung zeigt sich auch in der PrĂ€senz internationaler Konzerne (McDonald’s bis Tesla) und Kultur (Hollywood-Filme verdrĂ€ngten lange das heimische Kino, Streaming heute ohnehin global). Das ruft einerseits Kosmopoliten auf den Plan, andererseits Traditionalisten, die das „Österreichische“ bewahren wollen.

Im Kontext „Insel der Seligen vs. Land ohne Eigenschaften“ lĂ€sst sich sagen: Die Globalisierung riss Österreich aus seinem Dornröschenschlaf. Die Insel wurde ans Festland angebunden, was neuen Wohlstand, aber auch neue WettbewerbshĂ€rte brachte. Einige meinen, Österreich habe dabei Profil verloren – man sei austauschbar geworden in der EU, ein kleines RĂ€dchen ohne eigene Eigenschaften. Dagegen halten andere, Österreich hĂ€tte seine Spezifika klug genutzt: z.B. als Vermittler zwischen Ost und West (Erweiterung), als VorkĂ€mpfer fĂŒr bestimmte Themen (Umwelt: Österreich war etwa gentechnik-kritisch und stark in erneuerbaren Energien engagiert) oder als Hort hoher LebensqualitĂ€t, was im globalen Wettbewerb Talente anzieht.

Fakt ist: Die österreichische Wirtschaft und Gesellschaft sind heute stark global verflochten. Ereignisse in der Welt (Finanzkrisen, Pandemien, Kriege) wirken unmittelbar hier. Das Land hat in der Globalisierung eine robuste Position erarbeitet – gemessen am BIP pro Kopf gehört es global zur Top-Liga, ebenso im Globalisierungindex. Aber die Kehrseite sind neue AbhĂ€ngigkeiten (Gasimporte, internationale Spekulanten – siehe Hypo-Alpe-Adria-Bank-Desaster mit BayernLB) und der Verlust mancher Sicherheiten, die frĂŒher selbstverstĂ€ndlich waren (etwa eine Stelle auf Lebenszeit im öffentlichen Dienst – heute ist die Arbeitswelt flexibler, unsicherer geworden). Unterm Strich ist Österreich vom behĂŒteten Binnenland zu einem offenen Player geworden. Das Selbstbild hat sich entsprechend angepasst: Man sieht sich als Teil Europas, aber mit eigenem Charme. Bruno Kreiskys Ausspruch, „Lernen Sie ein bissel Geschichte, Herr Reporter!“, zeugt von Selbstbewusstsein – heute könnte man hinzufĂŒgen: und lernen Sie Englisch, Digitalisierung, Change-Management. Österreich hat sich verĂ€ndert und musste lernen, sich immer wieder neu zu definieren in der globalen Ära. Dabei half es, dass man auf einem starken Fundament stand (Rechtsstaat, Wohlstand, Sozialsystem) – nicht jedes Land hatte diesen Luxus. Vielleicht war die Insel also gut gerĂŒstet, um auch angeschlossen noch zu florieren.

Rolle von Religion und Kirche

Die katholische Kirche spielte in Österreich traditionell eine ĂŒberragende Rolle. 1945 war rund 90 % der Bevölkerung römisch-katholischstatistik.at; der Katholizismus war Teil der nationalen IdentitĂ€t und wurde vom konservativen Lager politisch vertreten (ÖVP als „christliche Partei“). Der Wiederaufbau der Zweiten Republik geschah in einer Werteordnung, die stark christlich-sozial geprĂ€gt war – Kirche und Staat arbeiteten kooperativ (Konkordat blieb in Kraft, Religionsunterricht an Schulen etc.). Bis in die 1980er war Österreich ein Land mit hoher KirchgĂ€ngerquote und gesellschaftlicher Macht der Kirche. Beispielsweise wurde 1971 ein liberaleres Fristenlösungs-Abtreibungsrecht unter SPÖ-Kanzler Kreisky gegen heftigen kirchlichen Widerstand eingefĂŒhrt; dies zeigte erstmals einen Riss zwischen sĂ€kularer Politik und kirchlichem Einfluss.

SĂ€kularisierung schritt in den folgenden Jahrzehnten schnell voran. Der Anteil der Katholiken sinkt seither kontinuierlich: 2021 waren nur noch 55 % der Bevölkerung offiziell Mitglieder der römisch-katholischen Kirchestatistik.at, Ende 2022 etwa 52 %, und Prognosen gehen davon aus, dass um 2025/26 die Katholiken unter 50 % fallen werdenmeinekirchenzeitung.at. Parallel dazu stieg der Anteil der Konfessionslosen auf rund 22 % (2021)statistik.atstatistik.at. Zugleich nahm die religiöse PluralitĂ€t zu: Durch Zuwanderung gibt es inzwischen etwa 8 % Muslime und knapp 5 % Orthodoxe Christen im Landstatistik.atstatistik.at – Gruppen, die 1950 praktisch inexistENT in Österreich waren. Die evangelische Kirche (Lutheraner) hingegen schrumpfte von ~6 % in den 1950ern auf unter 4 % heutestatistik.at.

Die katholische Kirche selbst durchlief interne Krisen. 1995 forderten beim berĂŒhmten „Kirchenvolks-Begehren“ ĂŒber 500.000 GlĂ€ubige Reformen (Zölibat lockern, mehr Rechte fĂŒr Laien etc.), was die Hierarchie aber nur begrenzt erhörte. FĂ€lle von Kirchenmissbrauch und Skandale (der RĂŒcktritt von Kardinal GroĂ«r 1995 nach MissbrauchsvorwĂŒrfen) erschĂŒtterten das Vertrauen vieler GlĂ€ubigen. JĂ€hrlich treten zehntausende Katholiken aus der Kirche aus – ein Zeichen, dass die Institution an Bindekraft verliert. Dennoch bleibt die Kirche gesellschaftlich sichtbar: Caritas und andere kirchliche Organisationen sind große Player im Sozialbereich, und bei Themen wie FlĂŒchtlingshilfe 2015 ergriff die Kirche (allen voran Kardinal Schönborn) Partei fĂŒr humane Lösungen. Religion im Alltag ist jedoch privater geworden: Immer weniger Menschen besuchen regelmĂ€ĂŸig die Messe; Glaube ist vielfĂ€ltiger (es gibt Esoterik-Trends, oder individuelle SpiritualitĂ€t).

Die Politik hat sich dem Wandel angepasst: War in den 1950ern noch selbstverstĂ€ndlich, dass Spitzenpolitiker sonntags im Stephansdom gesehen wurden und der Staatsvertrag 1955 wurde mit einem feierlichen Te Deum gefeiert, so ist heute Politik stĂ€rker laizistisch. Offene Konflikte zwischen Staat und Kirche gab es selten – etwa 2009 beim Thema Ethikunterricht vs. Religionsunterricht oder jĂŒngst beim Kopftuchverbot (wo religiöse Freiheit vs. Integrationsgedanke debattiert wurde). Generell herrscht ein friedliches Nebeneinander: Die Kirchen sind durch Gesetz (Staatsvertrag 1961) geschĂŒtzt und finanziell unterstĂŒtzt, mischen sich aber inhaltlich moderat ein.

Eine interessante Entwicklung ist die wachsende Sichtbarkeit des Islam: Mit rund 700.000 Muslimen (viele mit tĂŒrkischen oder bosnischen Wurzeln) ist der Islam nach dem Katholizismus die zweitgrĂ¶ĂŸte Glaubensgemeinschaft. Österreich hat seit 1912 (Islamgesetz) eine anerkannte islamische Religionsgesellschaft, was Integration erleichtern sollte. Dennoch sind Themen wie Moscheebau, islamischer Unterricht und Radikalisierung (Stichwort einige junge Österreicher als IS-KĂ€mpfer um 2015) Dauerbrenner. Die Regierung reagierte mit strengeren Gesetzen (Islamgesetz-Novelle 2015 verbot Auslandsfinanzierung von Imamen) und Überwachung extremistischer Tendenzen. Gleichzeitig funktionieren in der Praxis viele muslimische Gemeinden gut integriert, und islamische Feiertage sind in manchen Schulen selbstverstĂ€ndlich geworden.

Die katholische Kirche sucht derweil nach neuer Rolle: Sie versucht, als Wertevermittlerin in einer pluralistischen Gesellschaft aufzutreten. Papstbesuche (Johannes Paul II. 1983 und 1998, Benedikt XVI. 2007) waren noch große Ereignisse, aber die Volkskirche von einst verwandelt sich in eine von vielen gesellschaftlichen Gruppen. 2023 wurde erstmals diskutiert, kirchliche Feiertage zu reduzieren, da immer weniger GlĂ€ubige sie begrĂŒnden – das zeigt, wie sehr die Zeiten sich geĂ€ndert haben.

In Summe: Österreich war ehemals nahezu deckungsgleich mit katholisch. Heute ist es religiös vielfĂ€ltig und sĂ€kularer denn je. Das traditionelle Motto „Gott erhalte“ (aus der Hymne der Monarchie) hat an Verbindlichkeit verloren. FĂŒr manche bedeutet das einen Verlust an Halt (Stichwort „Land ohne Eigenschaften“, dem ein spirituelles Fundament abhandenkommt). Andererseits eröffnet es Raum fĂŒr neue IdentitĂ€ten: Österreich definiert sich jetzt stĂ€rker ĂŒber Werte wie Demokratie, Menschenrechte, Kulturleistungen – nicht mehr primĂ€r religiös. Die Kirche ist nicht mehr dominanter Akteur, aber immer noch Teil des sozialen Friedens (Stichwort Pfarrgemeinden als Nachbarschaftszentren). In Krisenzeiten wird durchaus auf sie gehört, doch die Meinungen sind divers. Ein Indiz der VerĂ€nderungen: 2022 gaben nur 33 % der Wiener an, religiös zu seinstatistik.at – die Mehrheit in der Hauptstadt ist sĂ€kular. Österreich hat also in 80 Jahren den Schritt vom katholisch geprĂ€gten „Heiligen Land“ (Insel der Seligen im frommen Sinn) zu einer sĂ€kular-pluralen Gesellschaft geschafft, in der Religion Privatsache und eine von vielen Facetten ist.

Fazit: Insel der Seligen oder Land ohne Eigenschaften?

Die Entwicklung Österreichs von 1945 bis 2025 zeigt ein Land im Spannungsfeld zwischen selbstzufriedenem Idyll und identitĂ€tssuchender Moderne. In der Nachkriegszeit konnte Österreich tatsĂ€chlich vieles verwirklichen, was Bruno Kreisky zur „Insel der Seligen“ verklĂ€rt hat – soziale Sicherheit, NeutralitĂ€t, Zusammenhalt – ein Sonderfall positiver Artde.wikipedia.org. Doch diese Idylle basierte zum Teil auf Ausblendung von Konflikten und Vergangenheit. SpĂ€testens ab den 1980er-Jahren wurde offensichtlich, dass Österreich kein abgeschottetes Paradies ist: Es musste sich seinen historischen Schatten stellen (NS-Vergangenheit aufarbeiten), neue Konflikte austragen (um Zuwanderung, Umwelt, Korruption) und im globalen Umfeld bestehen. Dieser Prozess ging einher mit der Suche nach einer zeitgemĂ€ĂŸen IdentitĂ€t. Robert Musils Diagnose vom „Land ohne Eigenschaften“ sollte bewusst wachrĂŒtteln: Nicht in selbstgefĂ€lliger Zufriedenheit zu verharren, sondern kritisch zu hinterfragen, wofĂŒr Österreich stehen willkatalog.borgmistelbach.ac.at.

Heute lĂ€sst sich sagen: Österreich ist weder nur selige Insel noch völlig profilloses Land. Es hat markante Eigenschaften – etwa die tief verankerte Demokratie und Sozialpartnerschaft, die hohe LebensqualitĂ€t, die kulturelle Vielfalt von Mozart bis Conchita Wurst, die landschaftliche Schönheit, die besondere historische Erfahrung als kleines neutrales Land zwischen GroßmĂ€chten. Zugleich kĂ€mpft es mit Entwicklungen, die viele westliche Gesellschaften herausfordern: Polarisierung, Vertrauensverlust in Institutionen, demografischer Wandel, Integration einer pluralen Bevölkerung. Der ehemals kuschelige Konsensstaat ist streitlustiger geworden; das kann als Reifezeichen der Demokratie gesehen werden, bedeutet aber auch mehr Spannungen im Alltag.

Österreich 2025 hat gelernt, dass Selbstreflexion nötig ist, um nicht zum Land ohne Eigenschaften zu werden. Die Frage nach dem Selbstbild wird offen diskutiert – sei es in Feuilletons ĂŒber „österreichische Seele“ oder im politischen Diskurs zwischen rĂŒckwĂ€rtsgewandter Nostalgie und progressiver Weltoffenheit. Im besten Fall vereint Österreich das Beste beider Pole: den humanen, sozialen Geist der „Insel der Seligen“ (Zugehörigkeit, SolidaritĂ€t) mit der kritischen, lernfĂ€higen Haltung eines Landes, das sich stĂ€ndig neu erfindet und nicht auf einem Mythos ausruht. Die historischen ZĂ€suren – Kreisky-Ära, Waldheim-AffĂ€re, EU-Beitritt, FlĂŒchtlingskrise, Corona-Pandemie – waren PrĂŒfsteine, an denen Österreich gewachsen ist und sein Profil schĂ€rfen konnte.

Bruno Kreisky sagte einmal bescheiden: „Österreich ist nicht das Paradies, aber wir haben es ganz gut eingerichtet.“ Dieses „ganz gut eingerichtete“ Land hat in 80 Jahren immense Wandlungen durchlebt und steht dennoch vergleichsweise stabil da. Ob es selig oder eigenschaftslos in die Zukunft geht, hĂ€ngt davon ab, wie es die kommenden Herausforderungen – Klimawandel, digitale Revolution, sozialen Zusammenhalt – meistert. Die Vergangenheit hat gezeigt, dass Österreich dazu fĂ€hig ist, Krisen in Chancen zu verwandeln und dabei seine IdentitĂ€t fortzuentwickeln. In diesem Sinne ist es weder Insel noch Land ohne Eigenschaften, sondern ein „Land mit Eigenschaften“ – geprĂ€gt von Geschichte und doch immer im Werden begriffen.

Quellen: Bruno Kreisky bezeichnete Österreich in den 1970ern als „Insel der Seligen“ im Kontext von Sozialstaat, NeutralitĂ€t und sozialem Friedende.wikipedia.org. Robert Menasse kritisierte 1992 in Das Land ohne Eigenschaften die österreichische IdentitĂ€t als negativ geprĂ€gtkatalog.borgmistelbach.ac.at. Das Sozialpartnerschafts-Modell förderte den Ruf Österreichs als konfliktarmes Land mit kaum Streiksde.wikipedia.org, seine Bedeutung sank ab 2000 durch politischen Druckde.wikipedia.orgde.wikipedia.org. Die Aussage, ein gerechter Sozialstaat sei Fundament von StabilitĂ€t und Demokratieparlament.gv.at, entstammt einer Rede im Parlament. Die NeutralitĂ€t ist tief in der IdentitĂ€t verankertde.wikipedia.org; trotz EU-Mitgliedschaft hĂ€lt die Mehrheit daran festde.wikipedia.org. Die Waldheim-AffĂ€re 1986 wirkte als Auslöser zur Aufarbeitung der NS-Zeitwiev1.orf.at; selbst Waldheim betonte spĂ€ter die Notwendigkeit, die Opferrolle aufzugebenwiev1.orf.at. Eine Werte-Studie 2021 zeigt hohen Demokratiewillen, aber wachsende Unzufriedenheit mit der Politikprofil.at. 2024 waren 27,8 % der Bevölkerung im Ausland geboren (2015: 21,4 %)orf.at. 2021 bekannten sich nur noch 55 % zur römisch-katholischen Kirchestatistik.at, wĂ€hrend 8,3 % Muslime warenstatistik.at. Österreichs Forschungsquote liegt stabil ĂŒber 3 % des BIP (2020 dritthöchste in EU)bmb.gv.at. Die Medienlandschaft ist zweigeteilt: reichweitenstarker Boulevard (Krone mit 28 % Tagesreichweite)diemedien.at mit großem politischem Einflussdiemedien.atund qualitativ hochwertige, aber weniger gelesene Medien. Studien zeigen, dass selektive Mediennutzung (ORF vs. ServusTV) Einstellungen in der Pandemie verstĂ€rkte und zur Polarisierung beitragen kannscience.apa.atscience.apa.at. All diese Aspekte untermauern das vielschichtige Bild der österreichischen Gesellschaft 1945–2025.

+ Quellen

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