Wege aus der gesellschaftlichen Entfremdung
Gesellschaftliche Entfremdung und Normopathie in Deutschland und Österreich 2020–2025
Einleitung
Die Jahre 2020 bis 2025 waren in Deutschland und Österreich von tiefgreifenden Krisen und Umbrüchen geprägt. Die Corona-Pandemie, gefolgt von gesellschaftlichen Debatten und einem militärpolitischen „Zeitenwende“ durch den Ukraine-Krieg, brachten neue Spannungen hervor. Viele Bürger fühlten sich gesellschaftlich entfremdet – entfremdet von Politik und Medien, von ihren Mitmenschen und teils sogar von sich selbst. Diese Analyse beleuchtet die politisch geförderten Ursachen dieser Entfremdung, wendet das Normopathie-Konzept nach Hans-Joachim Maaz darauf an, vergleicht Maaz’ Ansatz mit weiteren soziologischen und soziopsychologischen Theorien (etwa Fromm, Rosa, Han, Klein), und diskutiert Gemeinsamkeiten, Unterschiede sowie Erklärungsreichweite. Abschließend werden zentrale Lehren über die gesellschaftliche Entwicklung gezogen und konkrete persönliche Strategien empfohlen, um in „entfremdeten“ Zeiten innere Unabhängigkeit, seelische Gesundheit und gesellschaftliche Mitgestaltung zu bewahren.
Politisch geförderte Ursachen der Entfremdung (2020–2025)
Corona-Maßnahmen und Pandemiepolitik
Die beispiellosen Einschränkungen während der COVID-19-Pandemie trugen wesentlich zur gesellschaftlichen Entfremdung bei. Lockdowns, Kontaktverbote und 2G-Regeln schränkten nicht nur Grundrechte ein, sondern polarisierten auch die Bevölkerung. Bereits Ende 2021 zeigten sich „große Demonstrationen“ in beiden Ländern, in denen sich aufgestaute Wut gegen das „Establishment“, die Politiker:innen und Expert:innen entlud. Diese Proteste verliefen oft ohne Differenzierung; stattdessen herrschten „Parolen, Halbwahrheiten [und] Freund/Feind-Denken“, was zu einer Überhitzung des gesellschaftlichen Klimas führte. Die politische Kommunikation trug dazu bei: Ab Sommer 2021 schlug sie in einen stark moralisierenden Ton um. Impfungen wurden als alternativlos verkauft; wer dem skeptisch gegenüberstand, wurde pauschal als „dumm oder verantwortungslos“ stigmatisiert. In Österreich gipfelte dies Anfang 2022 in der (kurzzeitigen) Einführung einer allgemeinen Impfpflicht – einer Maßnahme, die viele als Zeichen empfanden, dass „jede Art von Kritik“ delegitimiert würde. Diese Alternativlos-Rhetorik verstärkte das Gefühl der Ohnmacht und Entfremdung bei jenen, die anderer Meinung waren.
Auch der Umgang mit Bürgerprotesten führte zu Vertrauensverlust. So sank in Deutschland das Vertrauen in die Polizei während der Pandemie spürbar ab und erreichte bis 2023 nicht wieder das Vorkrisen-Niveau. Einerseits wurde kritisiert, Vorgaben wie Versammlungsverbote seien in ländlichen Räumen „wenig kontrolliert“ worden; andererseits stieß gerade die rigorose polizeiliche Durchsetzung von Ausgangssperren und Kontaktbeschränkungen bei vielen auf Unbehagen. Der Eindruck von staatlicher Willkür oder ungleicher Maßnahmenumsetzung verstärkte bei einigen Bevölkerungsgruppen das Gefühl, vom Staat entfremdet zu sein.
Medien- und Informationspolitik
Die Pandemie war begleitet von einer Flut an Informationen, aber auch von Infodemie und Deutungskämpfen. Regierungen und Leitmedien bemühten sich, Falschinformationen entgegenzutreten – nicht selten jedoch mittels eindringlicher Warnungen und alarmistischer Botschaften. Der Psychiater Hans-Joachim Maaz kritisierte, „Angst [wurde] hinsichtlich der Corona-Pandemie politisch-medial permanent geschürt“, wodurch latente Ängste in vielen Menschen aktiviert worden seien. Diese „Panikmache“ habe eine massenpsychologische Pathologie ausgelöst – Maaz spricht von Normopathie –, erkennbar an „primitiven Abwehrmechanismen der Spaltung und Projektion“, die sich in „Denunziation, Diffamierung, Hass und Hetze“ entluden. In der Tat ist zu beobachten, dass während der Pandemie ein tiefer Riss zwischen „den Vernünftigen“ und „den Querdenkern“ durch Medienberichte und soziale Netzwerke lief, mit gegenseitigen Vorwürfen von Verantwortungslosigkeit versus Autoritätshörigkeit.
Das Vertrauen in traditionelle Medien litt unter diesen Polarisierungen. Laut einer Studie des Leibniz-Instituts in Bamberg stieg zwar im ersten Corona-Jahr 2020 zunächst das Vertrauen in Staat und Medien (ein klassischer „Rally-round-the-flag“-Effekt), doch bereits 2021 kehrte sich dieser Trend um. Ab dem zweiten Pandemiejahr sank das Vertrauen insbesondere in Medien deutlich und erholte sich erst 2023 wieder auf Vorkrisenwerte – mit Ausnahme der Printmedien, die weiterhin unter dem Ausgangsniveau blieben. Viele Bürger zeigten sich also enttäuscht von der Medienberichterstattung, sei es aufgrund wahrgenommener Einseitigkeit, Fehlprognosen oder einer als bevormundend empfundenen Faktenprüfungskampagne. Gleichzeitig bildeten sich alternative Informationsräume (Telegram-Gruppen, alternative Medien), was die Gesellschaft in konkurrierende „Wirklichkeitsinseln“ spaltete. Die Informationspolitik – ob in Form offizieller Verlautbarungen oder Social-Media-Regulierung – wurde so selbst zum Zankapfel, der Entfremdung förderte: Ein Teil fühlte sich durch „Mainstream-Medien“ manipuliert, der andere durch „Fake News“ der Gegenseite bedroht.
Soziale und sicherheitspolitische Entscheidungen
Neben der Pandemiebekämpfung spielten auch andere Politikfelder eine Rolle bei der Entfremdung. In der Innen- und Sicherheitspolitik sorgten z.B. Debatten um Migration, Kriminalität und Extremismus seit Jahren für Spannungen, die sich 2020–2025 teils verschärften. Die Flüchtlingsaufnahme ab 2015 hatte bereits Gräben offenbart; in der Pandemie rückten zwar andere Themen in den Vordergrund, doch 2022 kamen mit dem Krieg in der Ukraine erneut viele Geflüchtete nach Europa. Deutschland und Österreich standen vor der Aufgabe, humanitäre Hilfe zu leisten, ohne die Fehler früherer Integrationspolitik zu wiederholen. Dennoch instrumentalisierten rechtspopulistische Parteien wie die AfD und FPÖ die Lage: Sie bedienten das Narrativ von „den Besserwissern da oben“, die angeblich „nicht die authentischen Anliegen des Volkes kennen“. Dieses Narrativ fiel bei manchen Menschen auf fruchtbaren Boden, die sich in der technokratischen Krisenpolitik der Regierungen nicht wiederfanden.
Hinzu kamen Skandale und politische Affären, die das Vertrauen in die politische Elite untergruben – in Österreich z.B. die Ibiza-Affäre (2019) mit Auswirkungen bis in die 2020er oder Korruptionsvorwürfe gegen hochrangige Politiker. Solche Ereignisse bestätigten viele in der Ansicht, dass „die da oben“ in erster Linie ihre eigenen Interessen verfolgen. Die Corona-Krise verstärkte diese Wahrnehmung noch: Während kleine Unternehmer um ihre Existenz bangten und Bürger Demonstrationsverbote hinnehmen mussten, gab es Berichte über Maskenaffären, Vetternwirtschaft bei der Auftragsvergabe und einen manchmal chaotischen Politikstil (häufige Regeländerungen, kommunikative Pannen). Das Ergebnis war eine gefährliche Mischung aus Politikverdrossenheit und Radikalisierungspotenzial.
Sicherheitspolitisch sah sich insbesondere Deutschland ab 2020 mit neuen Bedrohungsdiskursen konfrontiert, etwa Rechtsterrorismus (z.B. Anschlag in Hanau 2020) oder Impfgegner-Radikalisierung. Maßnahmen wie verstärkte Überwachung oder härtere Gangart gegen „Staatsfeinde“ wurden teils eingeführt, was wiederum Bürgerrechtsbewegte alarmierte. Zugleich fühlten sich Polizisten und Verfassungsschützer vom wachsenden Hass (z.B. in Telegram-Kanälen) herausgefordert. Diese Dynamiken erzeugten ein Klima des Misstrauens: Bürger misstrauten einander und dem Staat, der Staat misstraute Teilen der Bürger. Entfremdung zeigt sich gerade daran, dass das gegenseitige Vertrauen in der Gesellschaft erodiert.
Wirtschaftliche Ungleichheit und soziale Folgen
Bereits vor 2020 war in beiden Ländern eine Kluft zwischen Arm und Reich gewachsen. Die Ereignisse ab 2020 haben diese wirtschaftliche Ungleichheit teils noch verstärkt. Während der Pandemie verloren vor allem prekär Beschäftigte und Geringverdiener ihre Jobs oder Einkommen, ohne ausreichendes Sicherheitsnetz. In Deutschland z.B. gingen fast eine Million Minijobs allein im Jahr 2020 verloren – ohne Kurzarbeitergeld oder Kompensation, was viele der Betroffenen „einem Schlag ins Gesicht“ gleichsetzten. Gleichzeitig erlebten Vermögende und Großunternehmen enorme Gewinne: Innerhalb nur eines Jahres (März 2020 bis März 2021) steigerten die Milliardäre dieser Erde ihr Vermögen um vier Billionen Dollar – ein Zuwachs von 54 %. Diese krasse Divergenz – auf der einen Seite Verarmung und Unglück vieler, auf der anderen Seite Bereicherung weniger – wirkte wie ein Brennglas sozialer Ungerechtigkeit.
In Österreich und Deutschland sind zudem die Bildungschancen stark ungleich verteilt, was die Pandemie gnadenlos offenlegte. Fernunterricht und Kita-Schließungen trafen benachteiligte Kinder viel härter; viele konnten sich zwei Jahre lang kaum weiterentwickeln, während Akademikerhaushalte ihre Kinder im Homeoffice förderten. Die Bildungsschere ging weiter auf, was langfristig sozialen Sprengstoff birgt. Entfremdung entsteht hier im Gefühl einer abgehängten Gruppe: Teile der jüngeren Generation fühlen sich um Chancen betrogen und der Gesellschaft weniger zugehörig.
2022/23 kam eine starke Inflation hinzu (getrieben durch Lieferkettenprobleme und Kriegseinflüsse), die vor allem Grundbedürfnisse wie Energie und Lebensmittel verteuerte. „Die vulnerabelsten Gruppen leiden besonders“, analysierte DIW-Präsident Marcel Fratzscher, und warnte, die „permanenten Spätfolgen“ der Pandemie – etwa bei psychischer Gesundheit oder finanzieller Sicherheit – könnten die Gesellschaft „weiter spalten“. Wer kein Erspartes hatte, erlebte den Kaufkraftverlust unmittelbar, während Wohlhabendere sich arrangieren konnten. Solche Erfahrungen fördern das Empfinden, dass „die Gesellschaft einen im Stich lässt“, was ein Kern von Entfremdung ist.
Militärpolitische Wende (Zeitenwende 2022)
Der russische Angriff auf die Ukraine im Februar 2022 markierte eine Zäsur in der europäischen Friedensordnung – Bundeskanzler Olaf Scholz sprach von einer „Zeitenwende“. Deutschland erhöhte plötzlich massiv den Verteidigungsetat und lieferte Waffen in ein Kriegsgebiet, während Österreich seine Neutralitätspolitik neu justieren musste. Zunächst zeigte sich durchaus Einigkeit in der Verurteilung des Angriffskrieges und Solidarität mit der Ukraine. Doch im Laufe der Monate traten tiefe Meinungsunterschiede zutage. Die öffentliche Meinung veränderte sich „mit grundlegenden Veränderungen der Wahrnehmung Russlands“ sowie wachsender Zustimmung zu Rüstungshilfen. Gleichzeitig blieb aber „die deutsche Kultur der Zurückhaltung bemerkenswert stabil“ – viele Deutsche hielten also an einer eher pazifistischen Grundhaltung fest. Entlang von Parteipräferenzen, Alter und besonders zwischen Ost- und Westdeutschland zeigten sich „spannende Bruchstellen“ in den Einstellungen. Zum Beispiel tendierten Ostdeutsche und ältere Generationen häufiger zu Skepsis gegenüber Waffenlieferungen, wohingegen Westdeutsche und Jüngere eher bereit waren, konsequent aufzurüsten.
Diese Spaltungen führten intern zu heftigen Debatten: Die einen warnten vor einem „Riss durch die Friedensbewegung“, die anderen vor „naivem Putin-Verständnis“. Bürger, die sich eine diplomatische Lösung wünschten oder vor Eskalation Angst hatten, fühlten sich bisweilen moralisch ausgegrenzt. Umgekehrt warfen Unterstützer der harten Linie den Zauderern fehlende Solidarität mit der Ukraine vor. Diese moralische Aufladung der Sicherheitspolitik ließ erneut das Freund-Feind-Denken aufflammen, ähnlich wie bei Corona. Eine gemeinsame resonante Diskussion über Sicherheitsinteressen fand kaum statt; stattdessen gab es mediale Kampagnen (z.B. offene Briefe Pro und Contra Waffenlieferungen), die den Eindruck erweckten, die Gesellschaft zerfalle in Lager.
In Österreich war die FPÖ schnell dabei, die Teuerungen und Energieprobleme infolge des Krieges auszuschlachten, indem sie Sanktionen infrage stellte und eine Nähe zu prorussischen Narrativen suchte. Dies brachte ihr bei Teilen der Bevölkerung Zuspruch – insbesondere bei jenen, die von hohen Strom- und Gasrechnungen überfordert waren und das Gefühl hatten, ihre Sorgen fänden beim Establishment kein Gehör. All dies trug dazu bei, dass sich Bürger entfremdet fühlten: vom sicherheitspolitischen Kurs (der für einige einen Identitätsbruch darstellte) und von einer politischen Klasse, die vermeintlich „über ihre Köpfe hinweg“ über Krieg und Frieden entscheidet.
Das Normopathie-Konzept nach Hans-Joachim Maaz
Was ist Normopathie?
Der Begriff Normopathie bezeichnet laut Hans-Joachim Maaz eine gesellschaftlich geteilte, krankhafte Normalität. Ein „Normopath“ ist demnach ein Mensch, der „stets normal und angepasst“ auftritt, „sein Verhalten überkorrekt und überkonform“ gestaltet. Nach außen wirkt er angepasst, doch diese zwanghafte Erfüllung aller Erwartungen verrät, dass das gelebte Leben „ein falsches, ein unechtes“ ist. Nicht nur der Einzelne ist in diesem falschen Leben krank; „vor allem [ist] die Gesellschaft“ krank, welche den Anpassungsdruck erzeugt und unter dem die Normopathen sich beugen. Maaz beschreibt also ein Phänomen, in dem die Mehrheit einem vermeintlich normalen Verhalten folgt, das jedoch auf innerer Unaufrichtigkeit, Selbstverleugnung und psychischer Deformation beruht.
Charakteristisch für Normopathie ist, dass aufgestaute Frustration und Aggression lange Zeit unter der Decke gehalten werden – im Bemühen, „überkorrekt“ zu funktionieren –, bis sich ein Ventil bietet. Dann entlädt sich die Wut an Schwächeren oder am „System“, so Maaz. Normopathie ist somit auch eine Erklärung für plötzliche Ausbrüche kollektiver Aggression in einer ansonsten scheinbar ordentlichen Gesellschaft. Maaz’ früheres Werk „Das falsche Leben“ (2017) analysierte bereits Phänomene wie Pegida-Demonstrationen und das Erstarken der AfD als Ausdruck einer normopathischen Gesellschaft: Einerseits entlädt sich hier Wut auf „Ausländer“ (Sündenböcke für eigenes Unbehagen), andererseits offenbart sich die „Selbstgerechtigkeit der politischen Elite“, die ihrerseits Teil des falschen Spiels ist. Die zunehmende Polarisierung und „Barbarisierung“ sozialer und politischer Verhältnisse reiße uns nun „aus dem [falschen] Leben heraus“, in dem wir uns bequem, aber unwahr eingerichtet hatten. Maaz sieht Normopathie folglich als breite Kollektivneurose, die das Gefüge der Gesellschaft durchzieht.
Wichtig: Maaz’ Normopathie-Konzept pathologisiert nicht einige abweichende Individuen, sondern dasjenige Verhalten, das allgemein als normal gilt. Es knüpft damit an Erich Fromms Idee der „Pathologie der Normalität“ an. Schon Fromm betonte in den 1950ern, „dass nicht alles, was wir als normal ansehen, auch richtig und gesund ist“. Im modernen Kapitalismus sei der Mensch vielmehr „von sich selbst, seinen Mitmenschen und der Natur entfremdet“ – er sieht sich nur noch als Objekt mit Marktwert, es zählen „allein Konsum und Leistung“. Maaz übernimmt dieses gesellschaftskritische Grundmotiv und konkretisiert es für die Gegenwart: Unsere Gesellschaft fördere Charaktere, die nach außen angepasst funktionieren, aber innerlich leer oder instabil sind.
Normopathie in den Jahren 2020–2025
Die turbulenten Jahre 2020–2025 liefern Maaz zufolge nahezu ein Lehrstück für Normopathie. Insbesondere die Corona-Pandemie offenbart für ihn Mechanismen einer kollektiven Angst- und Anpassungsstörung. Maaz analysiert die Pandemiesituation als „kollektive Angststörung von (inter-)nationaler Tragweite“, die zu einem „Massenphänomen der Normopathie“ geführt habe. Konkret bedeutet dies: Politik und Medien schürten seiner Ansicht nach übermäßig Angst vor dem Virus; viele Menschen, innerlich vorbelastet durch unverarbeitete Ängste, reagierten darauf mit blindem Gehorsam gegenüber Regeln und Konformität mit der Mehrheitsmeinung. Dieses Überanpassen aus Angst erfüllte zwar formal die Norm (Maskentragen, Distanzhalten, regierungstreue Meinung), ging aber mit starken unbewussten Spannungen einher.
Maaz diagnostiziert in dieser Phase typische Abwehrmechanismen einer Normopathie: Spaltung und Projektion. Spaltung bedeutete, dass die Gesellschaft sich in Gut und Böse unterteilte – hier die „vernünftigen“ Befürworter aller Maßnahmen, dort die „irrationalen Querdenker“. Projektion hieß, man lagerte die Schuld und Wut auf die jeweils Anderen aus. So wurden etwa Ungeimpfte pauschal als Sündenböcke für das Pandemiegeschehen verantwortlich gemacht, während diese umgekehrt „die Regierung“ oder „die Lügenpresse“ für alles Übel verantwortlich machten. Die Folge war „zunehmende psychosoziale Destruktivität“, sichtbar in Denunziation (Nachbarn meldeten einander wegen Regelverstößen), Diffamierung (Andersdenkende wurden öffentlich herabgewürdigt), Hass und Hetze im Netz. All das interpretiert Maaz als Symptome einer kranken Norm, die durch die äußere Krise getriggert wurden.
Interessant ist, dass Normopathie sowohl das scheinbar konforme Verhalten als auch die aggressiven Ausbrüche der Nonkonformen umfasst. Maaz selbst solidarisierte sich offen mit den Protestierenden gegen die Corona-Maßnahmen und nahm an Demonstrationen teil. In seiner Perspektive war also das Mainstream-Verhalten (die breite Angst und Fügsamkeit) das eigentlich pathologische, während die Proteste ein Ventil der aufgestauten Wut darstellten – freilich auch kein gesundes Ventil, sondern eines, das leicht in Hass umschlagen konnte. Normopathie erklärt somit, wie eine Gesellschaft erst überangepasst und starr wirken kann und dann plötzlich in extrem polarisierte Lager auseinanderbricht, sobald der Druck zu groß wird.
Auch in der militärpolitischen Wende 2022 ließe sich Normopathie erkennen: Viele Bürger rückten zunächst „überkorrekt“ von früheren Friedensidealen ab und unterstützten den neuen Kurs („Zeitenwende“), selbst wenn es ihren langjährigen Überzeugungen widersprach – aus Angst, abseits des nationalen Konsenses zu stehen. Gleichzeitig schwelte in manchen ein Unbehagen über die Aufrüstung, das jedoch kaum artikuliert werden durfte, ohne ins Abseits gestellt zu werden. Hier wäre die Normopathie die vorauseilende Anpassung an den neuen Mainstream (Bellizismus als Pflichtsolidarität), die innere Zweifel unterdrückt. Sollten sich diese Zweifel später bahnbrechen – etwa bei anhaltendem Krieg oder steigenden Lasten –, könnte sich auch hier Wut gegen „das System“ entladen, sei es in Form von Protestwahlen (z.B. Zulauf zu AfD/FPÖ, die den Unmut kanalisieren) oder sozialen Unruhen. Maaz’ Konzept warnt gewissermaßen: Wenn eine Gesellschaft ihre inneren Konflikte nur durch oberflächliche Normierung zudeckt, werden sie irgendwann umso vehementer ausbrechen.
Weitere Ansätze zur gesellschaftlichen Entfremdung (Fromm, Rosa, Han, Klein)
Zur Deutung der Entfremdungsprozesse in den Jahren 2020–2025 lohnt der Vergleich von Maaz’ Normopathie-Konzept mit anderen sozialpsychologischen und soziologischen Theorien. Insbesondere Erich Fromm, Hartmut Rosa, Byung-Chul Han sowie Naomi Klein bieten verschiedene Blickwinkel auf Entfremdung, deren Verbindungslinien und Unterschiede im Folgenden skizziert werden.
Erich Fromm: Humanistischer Marxismus und die Pathologie der Normalität
Erich Fromm (1900–1980) war einer der ersten Denker, der umfassend über gesellschaftliche Entfremdung schrieb. In Anlehnung an Karl Marx definierte Fromm Entfremdung als einen Zustand, in dem der Mensch sich selbst, seine Mitmenschen und seine Umwelt als fremd erlebt. In einer entfremdeten Gesellschaft “verdinglicht” sich der Mensch – er verliert seine „ursprünglichen Lebenskräfte“ und wird zum Objekt, beherrscht von „manipulativen Kräften in allen Lebensbereichen – vor allem im Kapitalismus“. Fromm prägte auch den Ausdruck „Pathologie der Normalität“, womit er betonte, dass viele Verhaltensweisen, die als normal gelten, in Wahrheit krank machende Anpassungen an ein krankes Gesellschaftssystem sind. So diagnostizierte Fromm bereits im 20. Jahrhundert eine westliche Konsumgesellschaft, in der „Konsum und Leistung“ zum Selbstzweck werden und echte zwischenmenschliche Beziehungen, Sinn und seelische Gesundheit verkümmern. Der „normale“ angepasste Bürger dieser Gesellschaft ist demnach keineswegs seelisch gesund, sondern leidet an innerer Leere, Angst vor Freiheit und Verlust an Liebesfähigkeit – Symptome, die kollektive Züge annehmen.
Fromms Analyse passt erstaunlich gut auf die Entwicklungen 2020–2025. Die pandemische Krisenerfahrung legte die bereits vorhandene innere Leere vieler Menschen bloß. Plötzlich fehlte die gewohnte Geschäftigkeit (Arbeit, Shoppen, Unterhaltung) und man spürte ein Gefühl der Unwirklichkeit und Isolation. Naomi Klein bemerkte etwa, „dass es eine Leblosigkeit und Anomie in modernen Städten gibt, und [dass] diese sich in der Pandemie vertieft hat – viele von uns fühlen sich tatsächlich weniger lebendig, weniger präsent, einsamer“. Fromm würde dies als Ausdruck bereits vorher bestehender Entfremdung deuten, die nun bewusster wahrgenommen wurde. Interessant ist auch Fromms Hinweis, dass moderne Menschen sich oft als Ware begreifen (etwa auf dem Arbeitsmarkt) – in der Pandemie erfuhren viele ihren Wert plötzlich als systemrelevant oder nicht systemrelevant, was die instrumentelle Sicht auf Menschenleben (Wer darf noch arbeiten, wer muss in Isolation bleiben?) drastisch vor Augen führte.
Ein zentraler Aspekt bei Fromm ist, dass entfremdete Menschen oft in automatischer Konformität Zuflucht suchen: Sie passen sich der Mehrheit an, übernehmen deren Meinungen und Verhalten, um nicht ihre innere Leere spüren zu müssen. Dies erinnert stark an Maaz’ Normopathie, ist aber bei Fromm positiver gewendet: Fromm glaubte an die Möglichkeit, Entfremdung durch Liebe, schöpferische Tätigkeit und den Aufbau einer humaneren Gesellschaft zu überwinden. Wo Maaz die Gegenwart vorrangig pathologisch beschreibt, bietet Fromm eine Vision der gesunden Gesellschaft, in der der Mensch zu sich selbst findet. In der Praxis der Jahre 2020–25 gab es durchaus solche gegenläufigen Tendenzen: Menschen, die die erzwungene Entschleunigung nutzten, um ihre Werte zu überdenken, nachbarschaftliche Hilfe organisierten, Solidarität übten (z.B. Einkaufsdienste für Risikogruppen, Balkonkonzerte). Fromms Ansatz würde solche Phänomene als Zeichen dafür sehen, dass der Mensch auch in der Krise seine Entfremdung aktiv überwinden kann – wenn er denn die richtige Haltung wählt.
Hartmut Rosa: Resonanz statt Beschleunigung und Entfremdung
Hartmut Rosa, ein zeitgenössischer deutscher Soziologe, betrachtet Entfremdung vor allem als Ergebnis von Beschleunigung und Desynchronisation in der modernen Gesellschaft. Rosa zufolge leben wir in einer „Eskalationslogik der Moderne“, die sich in ständigem Wachstum, Tempo und steigendem Leistungsdruck äußert. Weil alles immer schneller und komplexer wird, kommen Mensch und Institutionen nicht mehr synchron miteinander voran – es entsteht Desynchronisation, und daraus folgt Entfremdung. Rosa definiert Entfremdung als “eine Störung in unserer Beziehung zur Welt”: Wenn wir die Verbindung zu den Dingen, Menschen und unserer Umgebung verlieren, fühlen wir uns fremd und taub.
Die Corona-Zeit bietet für Rosas Theorie ein interessantes Experiment. Einerseits war „das Virus der radikalste Entschleuniger“, den wir je erlebt haben, so Rosa im Frühjahr 2020. Plötzlich stand die hypermobile Gesellschaft still: Reisen fielen aus, Termine verschwanden, das Hamsterrad stoppte jäh. Rosa beobachtete zunächst die Hoffnung, dies könne ein Moment kollektiven Innehaltens sein – Menschen nehmen “plötzlich wieder den Nachbarn intensiv wahr” und entdecken neue Resonanz zur unmittelbaren Umwelt (z.B. „man schaut intensiv aus dem Fenster und sieht die ersten Blüten“, Balkonkonzerte schaffen Gemeinschaftsgefühl). Diese Beispiele zeigen Rosas zentrales Gegenkonzept: Resonanz, ein Modus des “Hörens und Antwortens” in Beziehung zur Welt. In der Krise keimte kurz die Chance auf Resonanz – etwa als Familien mehr Zeit miteinander verbrachten oder Nachbarschaften solidarisch wurden.
Andererseits stellte Rosa fest, dass die erzwungene Entschleunigung auch neue Entfremdungserfahrungen brachte. Die plötzliche Distanzierung (social distancing) führte zu “kollektiven Entfremdungserfahrungen”: Menschen bauten Misstrauen gegenüber der physischen Umwelt und den Mitmenschen auf – „Türklinken, Geländer – all das könnte verseucht sein. Man darf Menschen nicht mehr umarmen, wir misstrauen ihnen. Die Weltbeziehung ist dadurch gestört“. Diese anschauliche Beschreibung Rosas zeigt, wie unmittelbar die Pandemie die Beziehung zum Gegenüber entfremdete: Der Andere wurde zum potentiellen Infektionsrisiko, die Nähe wich der Furcht. So entstand eine paradoxe Gleichzeitigkeit: äußerliche Entschleunigung, aber emotionale Anspannung; Chancen für Resonanz, aber auch neue Barrieren.
Rosas längerfristige Diagnose wäre, dass die moderne Gesellschaft nach Abklingen der Akutkrise vermutlich in ihre Beschleunigungsmuster zurückfällt – möglicherweise sogar verstärkt, um ökonomische Verluste aufzuholen – und dass dadurch die alten Entfremdungstendenzen wieder dominieren. Tatsächlich erlebten wir ab 2022 eine rasche Rückkehr zu „Normalität“: alles sollte nachgeholt werden, Konsum und Mobilität schossen erneut hoch, was Rosa als “Wiedereinschwingen ins Hamsterrad” kritisieren würde. Viele spürten dabei, dass sie trotz aller digitalen Vernetzung nicht wirklich zurück zu einem resonanten Leben fanden, sondern eher erschöpft und reizüberflutet waren. Rosa würde argumentieren, dass wir strukturelle Veränderungen bräuchten – Entschleunigung als bewusste Entscheidung, andere Zeitpolitiken, Raum für demokratische Deliberation – um der Entfremdung zu begegnen.
In Bezug auf Normopathie und Rosa gibt es Überschneidungen und Unterschiede: Beide diagnostizieren eine Art kollektiven Modus, der ungesund ist (Zwangsanpassung bei Maaz, Zwangsbeschleunigung bei Rosa). Doch Maaz betont psychologische Konformität, während Rosa die zeitsoziologischen und strukturellen Zwänge ins Zentrum stellt. Ergänzt man beide, ergibt sich ein tiefes Bild: Die Kombination aus sozialem Anpassungsdruck und systemischem Beschleunigungsdruck führt zu Entfremdung auf mehreren Ebenen.
Byung-Chul Han: Müdigkeitsgesellschaft und die innere Ausbeutung
Byung-Chul Han, ein koreanisch-deutscher Philosoph, hat mit Essays wie „Müdigkeitsgesellschaft“ (2010) oder „Palliativgesellschaft“ (2021) die seelische Verfassung des zeitgenössischen Menschen analysiert. Han konstatiert einen historischen Wandel: Von der früheren Disziplinargesellschaft mit externalen Verboten (Foucaults Welt von „Hospitalen, Gefängnissen, Kasernen“) hat sich die westliche Welt zu einer „Leistungsgesellschaft“ entwickelt, bevölkert von „Unternehmern ihrer selbst“, die aus eigenem Antrieb möglichst viel leisten. In dieser Gesellschaft herrscht ein Imperativ der Positivität – „Yes, we can!“ lautet das Motto; es scheint, als sei nichts unmöglich, solange man sich nur genug anstrengt.
Doch diese scheinbar befreiende Verheißung schlägt laut Han ins Gegenteil um: Statt äußerem Zwang gibt es nun Selbstausbeutung. Menschen treiben sich aus freien Stücken zu ständigem Optimieren, Multitasking und Leistungssteigerung – was Effizienz und Produktivität zwar erhöht, aber die Psyche zermürbt. Han spricht von einer „freiwilligen Knechtschaft“, einer „Zwangs-Freiheit“, in der man paradoxerweise durch die interne Verpflichtung zur permanenten Selbstverbesserung unfrei wird. Die Folgeerscheinungen sind charakteristisch: Burnout, Depression, Erschöpfung, das Gefühl des Ausgebranntseins. „Das ausgepowerte, depressive Leistungssubjekt wetzt sozusagen an sich selbst ab. Es ist müde, erschöpft von sich selbst, und im Krieg mit sich selbst“, schreibt Han – es kann „nicht aus sich heraustreten“, weil es völlig mit sich selbst beschäftigt ist, was dazu führt, dass „das Selbst sich aushöhlt und leert“. Han bringt es auf den Punkt: „Depression ist die Krankheit einer Gesellschaft, die an exzessiver Positivität leidet. Sie spiegelt eine Menschheit wider, die Krieg mit sich selbst führt.“. Hier taucht wieder der Aspekt auf, dass das Normale krankhaft sein kann: Die offiziell propagierte positive Haltung („Du kannst alles schaffen, sei immer erreichbar, bleib flexibel und gut drauf“) erzeugt einen Dauerdruck, dem viele irgendwann nicht mehr standhalten.
Auf die Jahre 2020–2025 lässt sich Han’s Konzept fruchtbar anwenden. Zunächst schien die Pandemie der Müdigkeitsgesellschaft eine Zwangspause aufzuerlegen. Manche kommentierten fast erleichtert, die verordnete Ruhe sei eine Chance, dem Burnout zu entkommen. Doch ziemlich bald verlagerte sich der Druck nur: Nun sollte man im Homeoffice genauso produktiv sein, sich digital dauerpräsent halten und obendrein die Krise kreativ nutzen („lern eine neue Sprache, mach Brot selbst, optimiere dich im Lockdown“ hieß es in zahllosen Ratgebern). Tatsächlich klagten viele am Ende eher über Zoom-Erschöpfung und Diffusionsstress – Arbeit, Familie, Freizeit verschmolzen am Bildschirm, man war immer im Hyper-Modus. Han hätte darin eine Verschärfung dessen gesehen, was er „Hyperattention“ nennt: ständige fragmentierte Aufmerksamkeit, das Springen zwischen Tasks und Infos, ein Zustand der inneren Unruhe. Die Pandemie reduzierte zwar manche äußeren Aktivitäten, aber steigerte die digitale Reizüberflutung.
Nach der Pandemie setzte die Leistungsmaschine sogar noch eins drauf: Jetzt galt es, alles Versäumte aufzuarbeiten, die Wirtschaft wieder hochzufahren, die eigene Karriere und Bildungslücken auszubügeln. Gleichzeitig vergrößerte sich angesichts multipler Krisen (Klima, Krieg, Inflation) das Gefühl, niemals genug tun zu können. Viele Menschen fühlten sich ständig unzulänglich – ein Kernmerkmal dessen, was Han beschreibt: In einer Gesellschaft, die denkt „Nichts ist unmöglich“, erlebt der Einzelne sein „Nichts-ist-möglich“-Gefühl (Symptom der Depression) als persönliches Versagen. So wundert es nicht, dass Umfragen in diesen Jahren vermehrt über Stress, Schlafstörungen und Sinnkrisen berichten.
Hans Fokus liegt stark auf dem inneren Erleben und weniger auf den politischen Strukturen. Dennoch hat seine Beschreibung der Krankheiten der Normalität (Depression, Angststörungen, Burnout) durchaus gesellschaftliche Sprengkraft: Wenn viele Einzelne am System Leistung zerbrechen, wächst die kollektive Unzufriedenheit. Das kann sich in Entfremdung äußern, etwa in Rückzug (Resignation, stille Depressionsepidemie) oder Aggression (Suche nach Schuldigen „da draußen“ – was wieder zur Sündenbockbildung führen kann). Han und Maaz berühren sich hier: Maaz sieht die aufgestaute Wut, Han das aufgestaute Leistungsversagen. Beide Phänomene haben wir 2020–2025 gesehen – teils in denselben Personen: Jemand, der erst ausgebrannt ins Grübeln kam, konnte durch die Corona-Ereignisse zum wütenden „Spaziergänger“ werden, der endlich einen äußeren Grund für sein Unbehagen fand (die Maßnahmen, „die Politik“). Somit erklärt Han einen wichtigen Nährboden der Entfremdung: das chronische Erschöpfungssyndrom einer Gesellschaft, das viele in Vereinzelung und Selbstzweifel getrieben hat.
Naomi Klein: Schockpolitik, „Spiegelwelt“ und reale Gefühle hinter Verschwörungen
Naomi Klein, kanadische Globalisierungskritikerin und Autorin (No Logo, Die Schock-Strategie), liefert einen eher aktivistisch-politischen Blick auf Entfremdungsprozesse. Sie prägte das Konzept der Schockdoktrin: Regierungen und Konzerne nutzen Krisen (Schocks), um unpopuläre Maßnahmen durchzusetzen, solange die Bevölkerung traumatisiert und orientierungslos ist. In der Corona-Krise wiesen manche (auch Klein selbst) darauf hin, dass Tech-Konzerne und autoritäre Regierungen die Pandemie durchaus als Chance begriffen, ihre digitalen Überwachungstechnologien und Marktanteile auszuweiten (Stichwort: „Screen New Deal“). Dies trägt zur Entfremdung auf einer politischen Ebene bei: Bürger erleben, wie in ihrem namen die Notstandsmaßnahmen laufen, während im Hintergrund Machtkonzentrationen stattfinden – ein frustrierendes Gefühl, nicht wirklich Souverän zu sein.
Besonders spannend ist Naomi Kleins jüngstes Werk “Doppelganger” (2023), in dem sie die Welt der Verschwörungstheorien analysiert, u.a. am Beispiel ihrer eigenen Doppelgängerin Naomi Wolf (einer ehemals linken Feministin, die ins Lager kruder Covid-Verschwörungen abglitt). Klein taucht ein in die „Mirror World“, wie sie es nennt – eine Spiegelwelt, in der Millionen Menschen an alternative Wahrheiten glauben. Doch Klein begegnet diesen Menschen nicht nur mit Spott, sondern mit dem Versuch zu verstehen, was sie dorthin treibt. Sie stellt fest: „Viele von Wolf’s Worten, so sehr sie auch von der Realität losgelöst sind, rühren an etwas Wahres. Denn es gibt eine Leblosigkeit und Anomie in modernen Städten, und diese hat sich während der Pandemie vertieft – viele von uns fühlen sich tatsächlich weniger lebendig, weniger präsent, einsamer“. Hier erkennt Klein an, dass Verschwörungsgläubige zwar die falschen Fakten haben mögen, aber oft das richtige Gefühl: Das Gefühl, dass das Leben in der spätkapitalistischen Welt kalt, entseelt und „inhuman“ geworden ist. Wenn nun die eine Seite (der Mainstream) dieses Unbehagen abtut und sagt „das ist doch normal, damit muss man klarkommen“, während die andere Seite (die Spiegelwelt) es „unmenschlich“ nennt und Abhilfe verspricht, so Klein, „sollte es nicht überraschen, dass Letztere eine starke Anziehungskraft hat“.
Klein liefert also eine Erklärung für die Attraktivität extremistischer Narrative: Sie füllen ein emotionales Vakuum, das die moderne Normalität selbst erzeugt hat. Menschen, die sich von der liberalen Elite nicht mehr repräsentiert fühlen, die den Versprechungen von Fortschritt und Globalisierung nicht glauben, suchen Sinn in Alternativen – mögen diese auch absurd erscheinen. Die Corona-Zeit mit Lockdowns und sozialer Vereinzelung verstärkte diese Tendenz erheblich. Viele drifteten in Online-Communities ab, wo sie zum ersten Mal „gehört“ wurden, wo einfache Schuldige benannt wurden (Bill Gates, „die Globalisten“, etc.) und man zugleich Gemeinschaft erlebte im Wir gegen Sie. In Kleins Worten: Beide verfeindeten Lager glauben vom jeweils anderen, sie lebten in einer gefälschten Realität – Verschwörungstheoretiker sprechen vom „Clownworld“ oder „Matrix“, in der die Schlafschafe gefangen seien, während umgekehrt der Mainstream die „Schwurblerszene“ als Wahnwelt betrachtet. Es ist wie ein gesellschaftlicher Capgras-Wahn: Jede Seite hält die andere für ausgetauschte Doppelgänger.
Naomi Kleins Ansatz betont somit, wie Entfremdung auch ein Informations- und Demokratiedefizit widerspiegelt. Sie kritisiert z.B., dass rechte Populisten (á la Steve Bannon) gezielt die Kluft nutzen, um Menschen in ihre „Mirror World“ zu ziehen, während etablierte Kräfte oft versäumen, die legitimen Ängste und Bedürfnisse dieser Menschen ernsthaft anzusprechentheguardian.com. Für Klein ist die Antwort kein Zynismus, sondern Aufklärung und echte demokratische Beteiligung. So lobt sie etwa Bürgerdialoge und Bewegungen, die versuchen, Brücken zwischen den Welten zu bauen, anstatt Tribunale über die “Unvernünftigen” abzuhalten.
In Summe ergänzt Naomi Klein Maaz’ Normopathie-Bild um eine medienkritische und globalisierungskritische Dimension: Die Normopathie ist nicht nur ein psychisches Phänomen, sondern auch ein durch Machtinteressen aufrechterhaltenes Narrativ von Normalität. Krisen können – im Sinne Kleins – genutzt werden, um diese Norm zu festigen (etwa durch Notverordnungen, die kritische Debatten abwürgen), was Entfremdung der Bürger von den Entscheidungsprozessen verstärkt. Zugleich aber birgt jede Krise die Möglichkeit, dass Menschen wach werden und den “richtigen Kern” ihres Unbehagens finden: etwa die Einsicht, dass extreme Ungleichheit, Klimazerstörung oder Korruption real sind und bekämpft werden müssen (nur eben nicht durch antisemitische Mythen, sondern durch solidarisches Handeln). Kleins Ansatz ermutigt also dazu, hinter den Irrwegen der Entfremdeten (z.B. Verschwörungen) die wahren Sehnsüchte (nach Sinn, Gemeinschaft, Gerechtigkeit) zu erkennen.
Normopathie vs. andere Ansätze: Stärken, Schwächen, Erklärungsreichweite
Die Gegenüberstellung von Maaz’ Normopathie-Konzept mit den Ansätzen von Fromm, Rosa, Han und Klein zeigt: Alle beschreiben Facetten derselben Realität, jedoch mit unterschiedlicher Perspektive. Jeder Ansatz hat Stärken in der Erklärung bestimmter Aspekte der Entfremdung, bringt aber auch mögliche Einseitigkeiten mit sich.
Hans-Joachim Maaz / Normopathie: Die Stärke von Maaz’ Konzept liegt in der schonungslosen Benennung der seelischen Verfasstheit unserer Gesellschaft. Er hält uns den Spiegel vor: Das, was wir für „normal“ halten – brav funktionieren, mit dem Strom schwimmen, nichts hinterfragen – kann in Wahrheit Ausdruck eines kranken Kollektivs sein. Maaz liefert einen griffigen Begriff (Normopathie), der Phänomene von Corona-Konformität bis Pegida-Wut gemeinsam erklären kann. Zudem betont er die emotionale Dynamik: Angst, Anpassung, Wutentladung – diese psychologischen Prozesse geraten in rein soziologischen Analysen oft zu kurz. Eine weitere Stärke ist sein Brückenschlag zwischen mikro (Individuum führt ein „falsches Leben“) und makro (gesellschaftliche „Gefühlsstau“, der zu politischen Erschütterungen führt).
Allerdings gibt es auch Kritik an Maaz’ Ansatz. Manche werfen ihm vor, er pathologisiere allzu schnell alle Entwicklungen, die nicht seiner Meinung entsprechen, als krankhaft. Tatsächlich schwingt bei Maaz eine normative Haltung mit: Er selbst nimmt ja Position gegen das „System“ ein (z.B. in der Corona-Frage) und sieht die Normopathie überall dort am Werk, wo Menschen der Mainstream-Meinung folgen. Kritiker könnten fragen: Ist es immer pathologisch, der Mehrheitsmeinung zuzustimmen? Könnte es nicht auch vernünftige Gründe geben, mit dem Kollektiv übereinzustimmen, ohne dass gleich eine Neurose dahinter steckt? Maaz riskiert also, das Kind mit dem Bade auszuschütten – jede Konformität als krank abzustempeln und jede Abweichung als potenziell gesund zu romantisieren. Zudem basiert sein Konzept vorwiegend auf klinischer und essayistischer Beobachtung, weniger auf quantitativer Forschung; das macht es charismatisch, aber angreifbar hinsichtlich Wissenschaftlichkeit. Schließlich schwingt bei Maaz bisweilen ein kulturkritischer Pessimismus mit, der wenig Perspektive bietet außer der Alarmrufe. Seine Forderung nach „Beziehungskultur“ ist zwar positiv, bleibt aber relativ abstrakt.
Erich Fromm: Fromms Ansatz ist in gewissem Sinne der Vorgänger von Maaz’ Theorie und teilt deren humanistische Motivation. Stärken Fromms sind seine Tiefe und Ganzheitlichkeit: Er verbindet psychoanalytisches Verständnis (etwa Mechanismen wie Flucht vor Freiheit, autoritäre Charakterstrukturen) mit einer Gesellschaftsanalyse (Kapitalismus, Konsumkultur). Dadurch kann er Entfremdung sowohl in der Innenwelt (Selbstverlust, innere Spaltung) als auch in der Außenwelt (Entfremdung von Natur, Arbeit, Mitmensch) erklären. Fromm bietet überdies ein ethisches Korrektiv: Er glaubt an die Fähigkeit des Menschen zur Liebe, Vernunft und Veränderung. Seine Vision einer sane society (gesunden Gesellschaft) inspiriert bis heute.
Die Schwäche Fromms liegt eventuell darin, dass seine Analysen zur heutigen hochkomplexen Digitalwelt nicht mehr spezifisch genug sind – er schrieb in der Mitte des 20. Jahrhunderts. Manche seiner Begriffe (z.B. „Marketing-Charakter“) müssten angepasst werden an Phänomene wie Social Media Selbstdarstellung. Doch die Grundprinzipien sind erstaunlich aktuell. Eine andere Kritik mag sein, dass Fromm mitunter als moralischer Mahner auftritt; wer seine Ideale (etwa der produktiven Liebe) nicht teilt, könnte es als subjektiv empfinden. Trotzdem: Fromm liefert ein Fundament, auf dem Maaz eigentlich aufbaut – Maaz selbst zitiert Fromm ja zustimmend. Maaz’ Normopathie kann man sehen als spezifische Aktualisierung von Fromms Pathologie der Normalität, fokussiert auf die deutsche Gegenwart.
Hartmut Rosa: Rosas Theorie der Beschleunigung und Resonanz ist soziologisch äußerst scharfsinnig. Sie vermag zu erklären, warum selbst in freiheitlichen, wohlhabenden Gesellschaften Menschen sich ohnmächtig und fremd fühlen – nämlich weil die Zeitstrukturen und Erwartungsdynamiken sie überfordern. Rosa bietet mit Resonanz auch ein schönes Leitbild: eine Welt, in der wir wieder in Einklang mit uns, den Mitmenschen und der Natur schwingen, anstatt alles nur verfügbar machen zu wollen. Seine Analyse der Corona-Krise (Entschleunigung vs. neue Entfremdung durch Distanz) zeigt die Flexibilität seines Ansatzes, auch aktuelle Phänomene zu deuten.
Rosas möglicher Schwachpunkt ist, dass sein Konzept abstrakter bleibt als Maaz’. Während Normopathie sehr plastisch das Verhalten von Menschen beschreibt, bleibt Resonanz vs. Entfremdung manchmal auf einer Meta-Ebene. Einige Kritiker meinen, Rosas Resonanzbegriff sei schwergreifbar – fast metaphysisch – und biete wenig konkrete Hebel zur Veränderung (wie misst man Resonanz? Wie schafft Politik Resonanzräume?). Auch ist Rosa primär ein Strukturanalytiker, der das Individuum eher als Symptomträger sieht. Die emotionalen und pathologischen Nuancen, die Maaz hervorhebt, kommen bei Rosa weniger zur Sprache. Dafür ist Rosa weniger wertend: Er beschreibt Trends, ohne vorschnell von „krank“ oder „gesund“ zu sprechen, was wissenschaftlich neutraler wirkt.
Byung-Chul Han: Han’s Stärke ist seine pointierte Kulturkritik. Er formuliert prägnant Zustandsbeschreibungen, die vielen unmittelbar einleuchten (etwa „das müde Ich, das Krieg gegen sich selbst führt“). Er hat den Nerv getroffen mit der Diagnose, dass wir heute an einem Zuviel des Positiven leiden – alles muss toll, effizient, grenzenlos sein, was uns letztlich auslaugt. Han verknüpft geschickt philosophische Theorie (Foucault, Nietzsche) mit Alltagsbeobachtung (Smartphone-Nutzung, Burnout-Epidemie), sodass man die Entfremdung fühlen kann, von der er spricht. Besonders aufschlussreich für 2020–2025 ist seine These, dass Depression die neue Volkskrankheit ist anstelle der früheren Neurosen – denn tatsächlich berichteten in der Pandemie viele von Antriebslosigkeit, und nach der Pandemie nimmt die Zahl psychischer Erkrankungen weiter zu.
Eine Schwäche Hans liegt darin, dass er kaum positive Auswege anbietet. Sein Rat, „wir müssen langsamer werden und wieder lernen zu denken“, ist zwar richtig, aber im Grunde ähnlich vage wie Rosas Resonanzforderung. Han zeichnet ein Bild der Menschheit als völlig in sich selbst gefangene animal laborans, das sich selbst ausbeutet. Kritiker mögen einwenden, dass er damit kollektive Aktionen, sozialen Protest oder politische Hebel unterschätzt – als wäre alles nur inneres Gefängnis. In der Realität sahen wir aber durchaus kollektive Gegenbewegungen (Kampagnen für Arbeitszeitverkürzung, Mental-Health-Initiativen, Quiet Quitting-Trend), die zeigen, dass Menschen aus dem Hamsterrad ausbrechen wollen. Hier bleibt Han oft pessimistisch, während etwa Klein optimistischer nach Aktivismus ruft. Außerdem richtet Han den Fokus sehr stark auf eine akademisch gebildete, globalisierte Mittelschicht (die im Büro, Coworking Space und Fitnessstudio sich abrackert) – weniger auf klassische Entfremdung der Arbeiterklasse oder Marginalisierten. So erklärt er viel über die innere Leere der High Performers, aber weniger über den Frust der Abgehängten. Maaz/Fromm hingegen adressieren auch das Volksgefühl, das Pegida und Co. antreibt.
Naomi Klein: Kleins Ansatz bringt die makrostrukturelle Dimension herein: Macht, Kapital, Medienmanipulation. Sie erinnert daran, dass Entfremdung nicht bloß spontan entsteht, sondern auch forciert werden kann – etwa durch Schockstrategien oder Propaganda, die Leute verwirren. Ein großer Pluspunkt ist ihre Empathie mit jenen, die in Verschwörungen flüchten: Sie nimmt sie ernst genug, um nach den sozialen Ursachen zu fragen (Unsicherheit, Sinnsuche) statt sie nur als Verrückte abzustempeln. Dadurch liefert sie Anstöße, Brücken zu bauen, anstatt Gräben zu vertiefen. Ihr plädoyerhaftes Eintreten für Demokratie von unten (z.B. Bürgerdialoge, basisorientierte Bewegungen) gibt konkrete Richtungen vor, wie man Entfremdung begegnen kann – nämlich durch Teilhabe, Transparenz und Gerechtigkeit, sodass Menschen sich wieder als Subjekte des Geschehens fühlen.
Klein ist allerdings weniger eine Theoretikerin als eine Geschichtenerzählerin. Ihr fehlt die konzeptuelle Geschlossenheit von Rosa oder Han; sie springt von Themen wie Klimawandel, Neoliberalismus, bis Verschwörungsmentalität. Das ist erfrischend konkret, aber fragmentarisch. Wissenschaftlich ließe sich kritisieren, dass Kleins Schockdoktrin nicht auf jeden Fall passt (die Corona-Krise wurde z.B. von Regierungen nicht einheitlich zur neoliberalen Transformation genutzt – im Gegenteil gab es vielerorts mehr Staatseingriffe ins Soziale). Auch kann man einwenden, Kleins Fokussierung auf rechtspopulistische Strippenzieher (Bannon & Co.) erkläre nicht vollständig die inneren Faktoren, warum so viele Menschen empfänglich sind. Da bieten eben die psychologischen Modelle von Maaz, Fromm, Han Ergänzungen (Angst, autoritäres Verlangen, innere Leere).
Erklärungsreichweite: Summiert man alle Ansätze, wird klar, dass Entfremdung 2020–2025 ein multikausales Phänomen ist. Maaz liefert den Namen für die kollektive Neurose, die uns befällt, Fromm den humanistischen Imperativ, sie zu heilen, Rosa den Hintergrundtakt der Beschleunigung, der alle nervös macht, Han die Innenansicht des ausgebrannten Individuums und Klein den geopolitischen Rahmen, in dem Kämpfe um Deutung und Macht stattfinden. Maaz’ Normopathie erscheint im Vergleich als zugespitzte Diagnose speziell für die deutschsprachigen Verhältnisse (inkl. Aufarbeitung DDR, Pegida etc., was seine früheren Arbeiten prägte), während die anderen globaler angelegt sind. Die Stärken Maaz’ liegen in der Anschaulichkeit und Aktualität, die Schwächen in mancher Überzeichnung und fehlenden Lösungen. Doch im Konzert mit Fromm, Rosa, Han und Klein bekommt das Konzept Tiefe: Es lässt sich verorten in Tradition (Fromm), unterfüttern mit Sozialtheorie (Rosa/Han) und einbetten in realpolitische Geschehnisse (Klein).
Fazit: Zentrale Lernpunkte 2020–2025
Die vergangenen fünf Jahre haben als eine Art gesellschaftliches Stresstest-Labor fungiert. Aus den Analysen oben lassen sich einige zentrale Lernpunkte zur gesellschaftlichen Entwicklung ableiten:
- Fragilität des Zusammenhalts: Der gesellschaftliche Zusammenhalt in Deutschland und Österreich erwies sich als überraschend fragil. In Krisen brachen latente Spaltungen offen aus – entlang von Weltanschauungen (etwa Wissenschaftsgläubigkeit vs. Skepsis), regionalen und bildungsspezifischen Linien und sozioökonomischen Ungleichheiten. Die Annahme, unsere Demokratien seien gefestigt und die Bürger weitgehend einig über Grundfragen, hat Risse bekommen. „Unsere Gesellschaft könnte nach der Pandemie gespaltener sein als jemals zuvor in den vergangenen 70 Jahren“, warnte etwa Fratzscher vom DIW 2021. Das haben die Folgejahre bestätigt.
- Politik als Vertrauensfaktor: Politische Entscheidungen können Entfremdung verstärken oder mildern. In der Pandemie hat initial konsequentes Handeln Vertrauen geschaffen („Rally-round-the-flag“), doch mangelnde Transparenz, Wankelmut und autoritärer Kommunikationsstil haben dieses Vertrauen teils verspielt. Ähnlich in der Zeitenwende: Eine offene Debatte hätte Gräben verhindert, doch stattdessen entstand oft das Gefühl, Alternativen würden nicht ernstlich geprüft. Der Verlust von Institutionenvertrauen wurde 2023 als „zentrales gesellschaftliches Problem“ identifiziert. Solange Krisen nicht gründlich aufgearbeitet werden (was in Deutschland schleppend läuft), bleibt dieses Vertrauen brüchig.
- Kulturelle Normen auf dem Prüfstand: Lange tradierte kulturelle Selbstbilder – etwa Solidarität und Freiheitsliebe (im Pandemiekonflikt) oder pazifistische Grundhaltung (im Ukrainekonflikt) – wurden herausgefordert. Teile der Bevölkerung verabschiedeten sich von bisherigen Normen, andere klammerten sich umso fester daran. Dies lehrt, dass Normen nicht statisch sind: Sie können sich unter Stress entweder radikalisieren (ins Extrem verzerren) oder anpassungsfähig zeigen. Die Normopathie-Hypothese legt nahe, dass ein starres Festhalten an Normalität (um jeden Preis „funktionieren“) letztlich zerstörerisch wirkt. Gesellschaften müssen lernen, flexibel und reflektiert mit ihren Normen umzugehen – weder blindem Konformismus zu verfallen noch in völlige Orientierungslosigkeit abzugleiten. Die Pandemie hat uns gewissermaßen gezwungen zu fragen: Welche Regeln sind wirklich sinnvoll, welche bloß Ritual? Was bedeutet Freiheit in der Gefahr? Diese Debatten schmerzen, sind aber notwendig, um authentischere gemeinsame Werte herauszubilden.
- Emotionen als politische Kraft: Ein entscheidender Lernpunkt ist das Bewusstsein, dass Emotionen – Angst, Wut, Resignation – enorme politische Sprengkraft haben. Angst erwies sich als leicht mobilisierbar (für Gesundheitsschutz oder gegen vermeintliche Bedrohungen durch Andersdenkende). Wut staute sich an und entlud sich explosiv (in Protesten, aber auch in sozialen Medien als verbale Aggression). Resignation zeigte sich in stiller Entfremdung (Rückzug ins Private, Politikverdrossenheit, depressives Verstummen). Politik und Medien haben oft zu wenig Gespür für diese emotionalen Unterströmungen bewiesen – oder sie sogar bewusst angefacht. Ein Weiter so ignoriert diese Lehre auf eigene Gefahr. Künftige Krisenpolitik muss mit den Menschen arbeiten, nicht über ihre Köpfe hinweg, und darf psychologische Auswirkungen nicht als Kollateralschaden abtun.
- Bedeutung von psychosozialer Gesundheit: Die 2020er haben gezeigt, dass psychosoziale Gesundheit kein Luxus, sondern Gesellschaftsgrundlage ist. Kollektive Angststörungen, Burnouts und Vereinsamung sind nicht nur individuelle Probleme, sondern beeinflussen demokratische Prozesse, Innovationsfähigkeit und den sozialen Frieden. Entfremdung ist letztlich ein Symptom dafür, dass diese psychosoziale Gesundheit leidet – die Bindungen zwischen Menschen und Institutionen sind geschwächt. Gesellschaftlich haben wir gelernt (oder sollten es gelernt haben), dass Resilienz mehr bedeutet als Krankenhäuser und Devisenreserven: Es geht auch um Resilienz der Seele einer Gesellschaft.
Insgesamt zeichnen die Jahre 2020–2025 ein Bild einer Gesellschaft am Scheideweg: Entweder sie driftet weiter auseinander in Normopathen und Rebellen, Erschöpfte und Wütende – oder sie erkennt die Warnsignale und bemüht sich um einen neuen Gesellschaftsvertrag, der Inklusivität, Ehrlichkeit und Menschlichkeit ins Zentrum rückt.
Persönliche Strategien für Unabhängigkeit, seelische Gesundheit und Mitgestaltung
Angesichts der analysierten Entfremdungstendenzen stellt sich zum Schluss die Frage: Was kann der/die Einzelne ganz konkret tun, um innerlich unabhängig und seelisch gesund zu bleiben und zugleich positiv an der Gesellschaft mitzuwirken? Hier einige Leitlinien und praktische Strategien, die sich aus den obigen Befunden ableiten lassen:
- Kritisches Denken und Selbstreflexion: Um nicht der Normopathie zu erliegen, ist es wichtig, die eigenen Anpassungstendenzen immer wieder zu hinterfragen. Man sollte unterscheiden: Handle ich aus eigener Überzeugung – oder nur, weil „man es so macht“? Innere Unabhängigkeit bedeutet, sich auch gegen Gruppendruck treu zu bleiben, wenn es den eigenen Werten entspricht. In entfremdenden Zeiten ist es hilfreich, Medieninformationen kritisch und divers zu beziehen, Echokammern zu meiden und Grautöne zuzulassen statt ins Schwarz-Weiß-Schema zu verfallen. Eine selbstkritische Meta-Perspektive schützt davor, blind in kollektive Hysterien hineingezogen zu werden.
- Emotionale Souveränität und Achtsamkeit: Maaz’ Analyse erinnert daran, wie sehr Angst uns steuerbar macht. Persönlich kann man dem begegnen, indem man lernt, die eigenen Ängste zu benennen und konstruktiv zu bewältigen (z.B. durch Gespräche, Psychotherapie oder Entspannungstechniken), statt sich von Panik anstecken zu lassen. Ähnlich mit Wut: Diese sollte nicht unterdrückt, aber reflektiert kanalisiert werden – etwa in sachliche Kritik, zivilgesellschaftliches Engagement oder auch kreative Ausdrucksformen (Kunst, Sport), anstatt in blinde Aggression oder autoaggressive Verstumpfung (Han’s Krieg mit sich selbst). Achtsamkeitsübungen können helfen, im hektischen Infostrom und Leistungsdruck Inseln der Ruhe zu finden, um nicht das Gefühl für sich selbst zu verlieren. Byung-Chul Han empfiehlt im Kern: Entschleunigung – mal Nein sagen zum ständigen Online-Sein, ausreichend schlafen, Natur erleben. Kleine Schritte wie tägliche Offline-Zeiten, Spaziergänge ohne Handy oder Meditation können helfen, der Müdigkeitsgesellschaft etwas entgegenzusetzen.
- Resonanz und Beziehungspflege: Hartmut Rosa würde raten, aktiv nach Resonanz-Erfahrungen zu suchen, um Entfremdung abzubauen. Das bedeutet: echte Begegnungen statt nur digitale Kontakte, Tätigkeiten aus Freude statt nur aus Nutzenkalkül, Zeit nehmen zum Zuhören und Antworten. Konkretes Beispiel: Ein Instrument spielen oder gemeinsam singen, wie die Balkonkonzerte während des Lockdowns – Rosa sah darin „eine neue Weise des In-der-Welt-Seins“, die Hoffnung gibt. Ebenso kann man bewusst Rituale mit Familie und Freunden pflegen (regelmäßige Treffen, gemeinsames Kochen, Austausch ohne Ablenkung), um die Bindungen zu stärken. Beziehungskultur – wie Maaz es nennt – ist ein Schutzschild gegen Polarisierung. Wer in tragfähigen Beziehungen steht, verfällt weniger in Angst und Hass auf Fremde. Das heißt auch: Andere Meinungen im persönlichen Umfeld aushalten, im Dialog bleiben, anstatt Kontakte abzubrechen – „der Versuch, auch andere Perspektiven wahr- und ernstzunehmen“ war für viele Beteiligte in Bürgerdialogen eine positive, heilende Erfahrung.
- Eigenaktivität und Teilhabe: Ein starkes Mittel gegen gesellschaftliche Entfremdung ist, selbst zum handelnden Subjekt zu werden. Demokratie lebt vom Mitmachen. Persönlich kann man sich z.B. in Bürgerinitiativen, Nachbarschaftshilfen, Nichtregierungsorganisationen oder politischen Parteien engagieren – je nach Neigung. Wichtig ist, vom Zuschauermodus (oder Wut-Stammtischmodus) in den Gestaltungsmodus zu wechseln. Wer mit anderen an einer Sache arbeitet (Umweltprojekt, Jugendgruppe, Flüchtlingshilfe, lokales Gewerkschaftsteam etc.), erlebt Gemeinschaft und Wirksamkeit, was das Gefühl der Ohnmacht reduziert. Naomi Klein betont, wie entscheidend reale Aktivierung ist, um der „Mirror World“ etwas entgegenzusetzen – praktische Solidarität statt konspirative Fantasie. In den Jahren 2020–25 gab es ja auch viele positive Beispiele: spontane Nachbarschaftsnetzwerke in der Pandemie, große Hilfsbereitschaft für ukrainische Geflüchtete 2022, oder digitale Hackathons („WirVsVirus“ in Deutschland) zur Lösung von Krisenproblemen. Sich solchen Bewegungen anzuschließen oder selbst kleine Initiativen zu starten, verbessert nicht nur die Welt im Kleinen, sondern gibt einem auch selbst Sinn und Zugehörigkeit zurück.
- Bildung und Medienkompetenz: Um zwischen Wahrheit und Lüge, Manipulation und berechtigter Warnung unterscheiden zu können, braucht es Wissen. Persönliche Weiterbildung – sei es über politische Prozesse, Medienmechanismen oder historische Zusammenhänge – hilft, Extremeinordnungen zu vermeiden. Medienkompetenz bedeutet auch: Quellen prüfen, nicht jede Schlagzeile glauben, Algorithmen durchschauen, die einen in Erregung treiben wollen. In einer „postfaktischen“ Zeit trägt jeder Einzelne Verantwortung, nicht zum Spielball von Propaganda (gleich welcher Couleur) zu werden. Dazu gehört auch, sich Fehler einzugestehen und bereit zu sein, die eigene Meinung zu revidieren, wenn Fakten es nahelegen. Diese intellektuelle Demut kann Gemeinschaft stiften: Wir alle irren mal – wichtig ist, gemeinsam daraus zu lernen, statt einander zu Feinden zu erklären.
- Für sich sorgen ohne Egoismus: Seelische Gesundheit verlangt manchmal auch, sich abzugrenzen. Man darf Nachrichtenpausen einlegen, toxische Online-Diskussionen meiden, sich Erlaubnis zum Ausruhen geben, ohne schlechtes Gewissen. Das ist kein Rückzug aus der Gesellschaft, sondern präventive Selbstfürsorge, um anschließend wieder positiv beitragen zu können. Han’s Aussage „Das ausgebrannte Selbst kann nicht mehr außen stehen, es verbeißt sich in sich selbst“ mahnt, dass wir uns nicht in diesen Zustand manövrieren sollten. Persönliche Resilienz – sei es durch Hobbys, Sport, Glaube oder Therapie – ist kein Luxus, sondern Basis, um in unruhigen Zeiten überhaupt gestaltend aktiv sein zu können.
- Empathie und Verständigungsbereitschaft: Schließlich eine der schwierigsten, aber wichtigsten Strategien: aktiv Empathie üben. Das heißt, auch Menschen zuzuhören, die komplett anderer Meinung sind, um zu verstehen, warum sie so denken oder fühlen. Das heißt nicht, alles gutzuheißen, sondern den Menschen hinter der Position zu sehen. Wie Naomi Klein aufzeigte, „die Fakten mögen falsch sein, aber das Gefühl dahinter oft richtig“. Wenn jemand z.B. an absurde QAnon-Theorien glaubt, steckt dahinter vielleicht eine berechtigte Frustration über Eliten oder eine Suche nach Gemeinschaft. Kann man dieses Bedürfnis anerkennen, ohne die Theorie zu teilen? Gelingt es, im Gespräch gemeinsame Sorgen herauszudestillieren (etwa um Kinder, um Gerechtigkeit), schafft man Brücken. Auf individueller Ebene kann so etwas unglaublich viel Entfremdung abbauen. Es verhindert zudem Normopathie im eigenen Umfeld: Man signalisiert, dass nicht absolute Normierung (Du musst so denken wie ich) die Basis unserer Beziehung ist, sondern gegenseitiger Respekt. Gerade in Familien und Freundeskreisen, die durch Corona oder Politik entzweit wurden, ist dies relevant: versuchen, das Verbindende zu retten und die Gräben behutsam zuzuschütten, wo es möglich ist.
Zusammengefasst: Persönliche Resilienz und gesellschaftliche Mitgestaltung sind zwei Seiten derselben Medaille. Wer innerlich unabhängig und gesund bleiben will, tut gut daran, sinnstiftende Verbindungen zu suchen – zu sich selbst, zu anderen, zu einer Sache, die größer ist als man selbst. Die Jahre 2020–2025 haben uns gelehrt, wie schnell sonst Angst und Entfremdung um sich greifen können. Jede*r Einzelne kann ein kleines Gegengewicht bilden, indem er/sie Menschlichkeit im Alltag lebt: mit Vernunft und Herz, kritisch denkend aber warmherzig handelnd. So kann man entfremdeten Zeiten trotzen und sogar dazu beitragen, dass aus Krise Veränderung zum Besseren wächst.
Fußnoten:
Bogner, A. (2025): 5 Jahre Corona: Was wir aus der Pandemie gelernt haben. Österreichische Akademie der Wissenschaften – Interview. (Entladung von Wut in Demonstrationen, Freund-Feind-Denken)
Bogner, A. (2025): ebenda. (Moralisierung der Impfdebatte, Delegitimierung von Kritik durch „Alternativlos“-Rhetorik)
Wartusch, E. (BR24, 21.03.2025): Studie: Corona-Pandemie ließ Vertrauen in Institutionen wanken. (Vertrauensverlust bei Polizei während Pandemie)
Maaz, H.-J. (2023): Angstgesellschaft – Vortrag GGB Lahnstein. (Politisch-mediale Angstmache, Normopathie mit Spaltung, Projektion, Hass als Folge)
Wartusch, E. (2025): a.a.O. (Vertrauensverlust in Medien ab dem zweiten Pandemiejahr, erst 2023 wieder auf Ausgangsniveau)
Fratzscher, M. (20.12.2021): Die unterschätzte soziale Polarisierung. DIW Berlin / Zeit Online. (Verlust von fast 1 Mio. Minijobs 2020 ohne Absicherung)
Funk, M. (2021): Normopathie – Wenn das „Normale“ krank macht. (Handelsblatt: Vermögenszuwachs Milliardäre +54% in einem Jahr Pandemie)
Fratzscher, M. (2021): a.a.O. (Ungleiche Bildungschancen: Quote Uni-Zugang Akademikerkinder vs. Nicht-Akademiker; Verschärfung durch Pandemie erwartet)
Fratzscher, M. (2021): a.a.O. (Pandemie-Folgen psychische Gesundheit, besonders junge/alleinstehende/kranke Menschen betroffen; Gefahr dauerhafter Spaltung)
Dienes, A. et al. (Feb. 2023): Zeitenwende im Kopf – Kontinuität und Wandel in der öffentlichen Meinung. FES. (Wahrnehmungswandel bzgl. Russland, höhere Zustimmung zu Verteidigung; dennoch anhaltende Kultur der Zurückhaltung; Bruchstellen nach Partei, Alter, Ost/West)
Maaz, H.-J. (2017/2020): Das falsche Leben – Ursachen und Folgen unserer normopathischen Gesellschaft. C.H.Beck. (Definition Normopath: überkonform, unecht; falsches Leben, krankhafte Gesellschaft; Anpassungsdruck, der Wut aufstaut)
Maaz, H.-J.: ebenda. (Normopath unterwirft sich Anpassungsdruck bis Gelegenheit kommt, Wut an Schwächeren oder „System“ abzulassen)
Maaz, H.-J.: ebenda. (Maaz’ Analyse: Pegida, AfD, Fremdenhass und Elite-Selbstgerechtigkeit als Anlass, das falsche Leben aufzuzeigen; Polarisierung und Barbarisierung reißen uns aus der Komfortzone)
Wikipedia: Hans-Joachim Maaz. (Maaz’ kritische Haltung zu Corona-Maßnahmen ab 2020; Solidarisierung mit Demonstranten, Teilnahme an Protesten)
Funk, M.: Normopathie – Wenn das „Normale“ krank macht. (Fromm in den 1950ern: Pathologie der Normalität – nicht alles Normale ist gesund; moderne Gesellschaft macht seelisch krank; Mensch entfremdet von sich, Mitmenschen, Natur)
Aregger-Moros, U. (1989): Entfremdung im Denken Erich Fromms. (Fromm: Entfremdung = Mensch verfällt der Verdinglichung, verliert Lebenskräfte, wird Opfer manipulativer Kräfte, v.a. im Kapitalismus)
Klein, N. (26.08.2023): Im Spiegel der Verschwörungen – The Guardian (deutsche Übersetzung sinngemäß). (Gefühl der Leblosigkeit und Anomie, verstärkt durch Pandemie; viele fühlen sich weniger lebendig, präsent, verbunden; Stress, Geschwindigkeit, Screens, Ängste des „necro-techno“ Kapitalismus sind Ursache; was eine Seite als normal verkauft und die andere als „inhuman“ anprangert, erklärt die Anziehung der letzteren)
Rosa, H. (März 2020): Interview Tagesspiegel. (Entfremdungserfahrungen in der Pandemie: Beziehung zur Welt gestört, Misstrauen in Dinge und Menschen – alles könnte kontaminiert sein, Umarmungen tabu, Weltbeziehung gestört)
Rosa, H.: ebenda. (Beispiel neues Zusammensein: Musizieren auf Balkonen in Italien als neue Weise des In-der-Welt-Seins; Chance des kollektiven Innehaltens, über unsere Lebensweise nachzudenken – Resonanzmoment)
Rosa, H. (2018): Interview UFZ. (Nach Aufkommen der Moderne permanent Versuch Weltreichweite zu vergrößern; nach Arbeit zig Aktivitäten – „so kommt es zu Desynchronisation und Entfremdung“)
Rosa, H.: ebenda. (Desynchronisation und Entfremdung sind die Folge; wer zu langsam ist, wird abgehängt)
Han, B.-Ch. (2015): Die Müdigkeitsgesellschaft. (Leistungssubjekt kämpft mit sich selbst; „Nicht-mehr-können-können“ führt zu Selbstvorwürfen und Auto-Aggression; „Depression ist die Krankheit einer Gesellschaft, die an exzessiver Positivität leidet. Sie spiegelt eine Menschheit wider, die Krieg mit sich selbst führt.“)
Maden, J. (Nov. 2023): Byung-Chul Han’s Burnout Society – Philosophy Break. (Paraphrase Han: Das erschöpfte, depressive Leistungssubjekt schleift sich selbst ab, ist erschöpft von sich und mit sich im Krieg; unfähig, nach außen zu treten oder auf Andere/Welt sich zu verlassen, verbeißt es sich in sich und höhlt sich aus; es erschöpft sich in einem Wettlauf gegen sich selbst – absolutes Sich-selbst-Konkurrenzieren – der paradoxerweise zur inneren Leere führt)
Klein, N. (2023): Doppelganger – Guardian (extract). (Im Mirror World scheint es offensichtlich, dass Millionen sich Illusionen hingeben; das Unheimliche ist, dass diese Millionen dasselbe über uns denken: Sie sagen, wir lebten in einer “Clownwelt”, seien in der Matrix gefangen)
Klein, N.: ebenda. (Klein fragt: Wie nennt man es, wenn eine Gesellschaft sich in zwei verfeindete Lager teilt, und jedes ist überzeugt, das andere Lager sei durch Doppelgänger ersetzt worden? Gibt es ein Syndrom dafür, eine Lösung?)
Bogner, A. (2025): 5 Jahre Corona – ÖAW. (Bürgerbeteiligungsverfahren in Ö: 320 repräsentative Bürger diskutierten Erfahrungen; großer Redebedarf, kontroverse Standpunkte; niemand grundlegend bekehrt, aber es gab den Willen zur Verständigung und Versuch, andere Perspektiven wahr- und ernstzunehmen – für viele sehr positive Erfahrung)
Fratzscher, M. (2021): Die unterschätzte soziale Polarisierung. (Gesellschaft nach Pandemie gespaltener als je seit 70 Jahren? Gefahr, dass Spaltung wichtige Reformen erschwert)
Bogner, A. (2025): 5 Jahre Corona – ÖAW. („ÖAW-Coronastudie 2023 hat den Verlust von Institutionenvertrauen als zentrales gesellschaftliches Problem benannt“; fehlende Aufarbeitung hält Krise als Problem aufrecht)
Bogner, A.: ebenda. (Aufarbeitung Pandemie: in Dtl. fehlt politischer Wille, lange Diskussion über Kommission vs. Studie vs. Bürgerrat; in Ö effizienter mit Studie + Bürgerbeteiligung, 320 Leute diskutiert; Dtl. tritt auf der Stelle)
Maden, J. (2023): Philosophy Break – über Han. (Resisting burnout is simple: we must slow down, and rediscover how to think. – sinngemäß auf Deutsch: Dem Burnout entgehen ist einfach, aber schwer getan: Wir müssen langsamer werden und wieder lernen zu denken.)
Quellen
Persönliche Top Aktivitäten für Unabhängigkeit, seelische Gesundheit und Mitgestaltung der Gesunden Gesellschaft (Sane Society – Erich Fromm)
Hier sind 7 persönliche Top-Strategien, inspiriert von Erich Fromms Vision einer Gesunden Gesellschaft (Sane Society), ergänzt durch aktuelle Erkenntnisse (Maaz, Rosa, Han, Klein), um in einer „kranken Normalität“ unabhängig, seelisch gesund und wirksam zu bleiben:
🧭 1. Authentisch statt angepasst leben
Was? Hinterfrage regelmäßig, ob dein Denken, Fühlen und Handeln dir wirklich entspricht – oder ob du nur Erwartungen erfüllst.
Warum? Fromm betont: “Die wichtigste Entscheidung ist, ob ich authentisch oder angepasst leben will.”
Wie?
- Journaling: Täglich 5 Minuten „Was war heute echt? Was war Maske?“
- Reflektiere berufliche Rollen, soziale Masken, Familienmuster.
- Erlaube dir, auch unpopuläre Meinungen zu vertreten – respektvoll.
🧘 2. Psychische Hygiene täglich pflegen
Was? Sorge bewusst für deinen seelischen Energiehaushalt – wie für deine körperliche Gesundheit.
Warum? In einer beschleunigten, angstgetriebenen Gesellschaft ist innerer Halt dein stärkster Schutz.
Wie?
- Tägliche Achtsamkeitsübung (10 Minuten Stille, Atem, Naturbetrachtung)
- Digitale Detox-Zeiten: Kein Handy ab 20:00 Uhr
- Körper-Geist-Praxis: z. B. Yoga, Qi Gong, bewusstes Gehen
🧩 3. Selbst denken – unabhängig informieren
Was? Entwickle kritische Urteilskraft statt dich emotional mitreißen zu lassen.
Warum? Normopathische Systeme leben von blinder Zustimmung – Fromm fordert „rebellisches Denken“.
Wie?
- Nutze unterschiedliche Quellen (Mainstream, kritisch, international)
- Stelle „Warum?“ und „Wer profitiert?“ – bei jeder Nachricht
- Lies Originalquellen statt nur Schlagzeilen
❤️ 4. Beziehungsräume bewusst gestalten
Was? Pflege tiefe, ehrliche Beziehungen statt flüchtiger Kontakte.
Warum? Resonanz (Rosa) und echte Nähe heilen Entfremdung.
Wie?
- Regelmäßige analoge Gespräche: zuhören, nicht urteilen
- Versöhne dich mit Andersdenkenden – ohne dich aufzugeben
- Erschaffe Rituale: gemeinsames Kochen, Redekreise, Spaziergänge
🌱 5. Sinnvolle Arbeit und schöpferisches Tun wählen
Was? Wähle Tätigkeiten, die deinem Wesen entsprechen, nicht nur Status bringen.
Warum? Fromm: “Produktive Arbeit ist der Weg zur Selbstverwirklichung.”
Wie?
- Frage dich: Was würde ich tun, wenn Geld keine Rolle spielt?
- Starte kleine Herzensprojekte (Garten, Schreiben, Handwerk, Kunst)
- Entwickle Nebenprojekte mit echtem Mehrwert für andere
🗣️ 6. Zivilgesellschaftlich mitwirken – ohne Ideologie
Was? Gestalte aktiv mit – in Initiativen, Dialoggruppen, Nachbarschaft.
Warum? Ohnmacht erzeugt Wut – Teilhabe erzeugt Sinn und Verbindung.
Wie?
- Suche lokale Gruppen (Demokratiecafés, Umweltgruppen, Sozialprojekte)
- Nimm an Bürgerräten, Dialogveranstaltungen oder Online-Konsultationen teil
- Bringe dein Know-how ein: als Mentor, Mitdenker, Ermöglicher
🌊 7. Wertebasierte Lebensführung – als innerer Kompass
Was? Lebe nach bewusst gewählten Werten – nicht nach kurzfristigem Nutzen.
Warum? Werte wie Freiheit, Mitgefühl, Wahrheit stiften Orientierung in entfremdeten Zeiten.
Wie?
- Wähle deine 3 Kernwerte – schreibe sie sichtbar auf
- Triff wichtige Entscheidungen wertekonform, nicht emotionsgetrieben
- Übe Integrität: Tue, was du sagst – und sage, was du tust
Abschlussgedanke von Erich Fromm:
“Der Mensch wird dann gesund, wenn er aufhört, das zu tun, was ihn krank macht.”
Diese Strategien helfen dir, dich selbst nicht zu verlieren, die Verbindung zur Welt zu bewahren – und aktiv an der Gestaltung einer gesunden Gesellschaft mitzuwirken.
